Auf Konstantin Ames Vorrede zu irgendwas antwortet Stefan Mesch auf Facebook.
Ich habe mir Ross Sutherlands Poesien angesehen, bevor ich zugestimmt habe, seine Poesien zu übersetzen und in einen möglichen Zusammenhang zu stellen. Ich nenne das mal hochtrabend Interpretation. Meine Übersetzung, das war meine Überlegung, kann nur dann gewinnen, wenn sie meine Übersetzung ist; kann nur gewinnen, wenn ich diese Sachen auch vortragen, und nicht nur vorlesen kann. Vielleicht ist der einzige Unterschied zwischen Prosa und Poesie der, dass man Prosa tatsächlich vorlesen kann, ohne dass das jemand als Zumutung empfindet.
Ross Sutherlands Poesie und meine Poesien unterscheiden sich recht erheblich voneinander. Und doch bin ich voller Bewunderung, und die hat sich mit der Verschriftlichung der Übersetzung verstetigt. Man kann das sicherlich anders machen. Ja, Stefan Mesch, ja, und? Die Gültigkeit einer simplen Unterscheidung muss jedoch akzeptiert werden, sonst sind Diskussionen in mehrfacher Hinsicht unergiebig: Es gibt Poesie und das Gegenteil bzw. die Simulation davon, Effekthascherei, gespreizte Attitüden, codierte Unternehmersprache, übergriffige Werbesprache, strategistischen und interessantistischen Lull: Poetry Slam. Poetryschlamm, Poetry Sludge. Ich wüsste nicht, warum ich irgendwas, beispielsweise Poesie, simulieren müsste.
Ich bewundere Ross Sutherland auch dafür, dass er seine Mitmenschen dazu ermutigt, Wege durch die Scheißrealität hindurch zur Poesie zu suchen, indem er Schreibkurse gibt. Es zeigt eine Aufgeschlossenheit und eine Freude an der Sache, die den Plattmachern hierzulande und anderswo völlig abgeht; da wird dann lieber von den zu Vielen-die-Gedichte-schreiben geschwätzt oder von einem Überangebot oder von Exportüberschüssen (!) von Poesie, von bandwurmartiger Coolness, die um sich gegriffen habe. Einige Meisterdenker können wohl nur in den Dimensionen von Wirtschaft und Krankheit denken. Es werden rasch immer mehr. Das soll natürlich diejenigen, die >es geschafft haben< von denjenigen, die es nicht schaffen sollen, abgrenzen. Solange niemand genau hinschaut, dient das sogar der Profilierung der Plattmacher als Freigeist und enfant terrible, wo tatsächlich nur strategische Kommunikation im Zeichen des Egoismus, eben Plattmacherei, stattfindet.
Man muss nicht den in Ehren ergrauten herrschaftsfreien Diskurs herbeizitieren, um eine Bigbrotherisierung (ich meine die amerikanische Serie, nicht Orwells „1984“) auch des deutschen Literaturbetriebs zu konstatieren: Kompetition, die sehr belebend ist, und Streit der Positionen, weichen zunehmend einer Tendenz, Nachwuchs fertigzumachen und Konkurrenz proaktiv auszuschalten. Das erhält dann die euphemistische Umschreibung: Man müsse sich eben klar abgrenzen. Pah! Solchen Pamphleten bieten immer mehr Zeitschriften Raum und Veranstalter laden auch Juroren ein, von denen bekannt ist, dass sie eine bestimmte „Ättitjud“ nicht abkönnen. Das zielt auf die Person und bleibt jeglichem Textereignis fern. Eine Kollegin aus dem Nordosten schrieb mir vorhin diesbezüglich via facebook:
So ist zumeist die Szene, geprägt von Willkür und Pathien,- das ist auch der Grund, warum ich mich da weitgehend heraushalte. Ich kann Kritik gut vertragen, aber dünnhäutig macht einen eine Art von selbstgefälliger Vernageltheit derer, die durch uns erst in dieser Position “sein dürfen”
Dieser kleine Exkurs gleich zu Beginn schien mir nötig, um meine These zu untermauern, warum Ross Sutherland auch, und rege, als Veranstalter von Lesebühnen in Erscheinung tritt: Der offizielle Literaturbetrieb ging ihm auf den Zeiger, wenn man aber nicht an bereits vorhandene Strukturen (Veranstaltungsorte, Foren aller Art, wie z.B. Wettbewerbe, Werkstätten, Zirkel), die Aufmerksamkeit auf neue Projekte lenken können, andocken will, bleibt nur der Weg: Selbermachen. DIY hat hierzulande keinen guten Ruf. Das Problem, das den Hauptmann von Köpenick hat entstehen lassen, ist noch immer da; es ist mit >institutionalisiertes Misstrauen< und >Kulturbürokratie< sehr höflich umschrieben. Übrigens wird Ross Sutherland seine Biographie, sollte er Lust dazu verspüren, selbst erläutern. Ich trete hier nicht als sein Anwalt oder Sekundant auf. Wollte nur auf die Färbung hinweisen, die das Vorkommen des Wortes „Lesebühne“ im bundesrepublikanischen Kulturraum bei der Bewertung (Abwertung) von Künstlerbiographien spielt. Es wäre ein Missverständnis, Ross Sutherland mit der Poetry Slam Szene und ihrem eigenartigen Sinn für Humor („Dichter und Kämpfer“) zu verwechseln. Ich stelle mir Ross Sutherland als einen sehr selbstbewussten Menschen vor, der sowohl auf elitäre Hochkultur als auch auf eitle Berufsjugendlichkeit pfeift.
Es gibt, soweit ich sehe, zwei starke Pole in der Auswahl der Gedichte, die Ross Sutherland vorgenommen hat: Ohnmacht und Schutzlosigkeit, die in der Kinderperspektive überdeutlich allegorisiert sind und andererseits den Angriff auf Autoritäten und Institutionen und das Establishment als solches, dies im Gestus der vollständigen Überlegenheit über Gegner und Gegenstand. Wie gehen Checkertum/Selbstermächtigung und Stammeln zusammen? Beides wird über die Sprechinstanzen vermittelt; hier spätestens wird ideologisch und imagologisch vermintes Gelände betreten.
Es gibt zwei dominante Sprechinstanzen. Eine hat deutlich autobiographische Züge mit der Prätention: Hier findet authentische Aussprache statt, Bekenntnis; die andere Instanz ist ein hyperbolisches Ich, das in der Tradition karnevalesken Sprechens steht (Michail Bachtin). Ich sperre mich nicht wenig dagegen, das als konträr zueinander zu begreifen, oder gar als einander widersprechende Haltungen, z.B. Clown versus Revoluzzer. Elegie und Satire, und zwar strafende Satire, bilden bei Sutherland keine dialektische Struktur, sondern eine mutwillige Gemengelage. Das hat oft brutale Bildwechsel zur Folge; formal partizipiert Sutherland, ob wissentlich oder nicht, an den Errungenschaften des Naturalismus ebenso wie denjenigen des Expressionismus. Eine breite Rezeption dieser Traditionen im angelsächsischen Raum hat nicht stattgefunden. Das öffnet Missverständnissen Tür und Tor, denen dann der Kitschvorwurf an die britische Kollegenschaft entspringen könnte. Aufgrund der Affinität einiger britischer Gruppierungen, wie der Cambridge School (vgl. Norbert Langes Editorial zum mittlerweile liebevoll „Briten-Dossier“ genannten Auswahl von zeitgenössischen Dichter/innen von der Insel im Schreibheft 79) zum Marxismus könnte es ähnliche Rezeptionsstörungen geben: Der Hadrianswall ist längst verfallen; die innerdeutsche Grenze, vulgo >Die Mauer<, steht noch in den deutschen Köpfen, als Popanz, Projektion, Stolz und/oder Schrecken. Ross Sutherland bleibt mindestens eine Eskalationsstufe unter derjenigen von Kolleg/innen, die sich selbst als >politisch< bezeichnen. Das macht es natürlich noch etwas schwieriger, ihn als Sensation und Neuentdeckung der hanseatischen Literatursaison zu präsentieren und ein Alleinstellungsmerkmal draufzukleben. Ein Journalistenproblem, nicht meines. Vielleicht darf man auch nicht mit dem Gattungstrias-Programm von Überdichter Johann Wolfgang Goethe im Hinterkopf auf diese Poesien losgehen. Genau das aber tut, unausgesprochen, Stefan Mesch, wenn er Ross Sutherland ein Katz-und-Maus-Spiel in dessen Gedicht „Ewige Leben“ vorhält (Mesch: „nur kapiere ich selbst den Heureka-Moment des Gedichts (oder mindestens: die Outtake-Bartender-Bier-Theken-Situation) kein Bisschen. und deshalb ärgert mich das “alles klar!”, “OK, endlich hab ichs raus!” am Ende eines Textes, den ich nicht raus habe. und der vielleicht einfach zu schlecht / unklar geschrieben ist, als dass ein Leser es raus kriegen könnte…?“) vorhält. In „Politik der Literatur“ (Dt. von Richard Steurer, Passagen Verlag, Wien, 2008) findet Jacques Rancière eine Formel für das „literarische Missverständnis“, auf das ich in meinem Kommentar zu „Nackt III“ hingewiesen habe:
Das Missverständnis wird nämlich wie das [politische] Unvernehmen zum Schaden desselben Paradigmas der Ordnung ausgeübt, des schönen Lebewesens, aufgefasst als Harmonie der Gliedmaßen und Funktionen in einer organischen Ganzheit. Dieses Modell des schönen Lebewesens ist auch ein Paradigma der Korrespondenz und der Sättigung: Es darf in der Gemeinschaft keine Namen-von-Körpern geben, die als Überschuss von realen Körpern zirkulieren, keine schwebenden und überzähligen Namen, die fähig wären, neue Fiktionen zu konstituieren, die das Ganze teilen und seine Form und Funktionalität auflösen würden. Und es darf auch im Gedicht keine überzähligen Körper geben in Bezug darauf, was die Zusammenfügung der Bedeutungen nötig macht, keine Körperzustände, die nicht durch ein bestimmtes Ausdrucksverhältnis mit einem Bedeutungszustand verbunden sind. (Rancière, Politik der Literatur, S. 58)
Eine solche Perspektive verschafft der Poesie offenbar größere Lizenzen, als Stefan Mesch ihr zugesteht, er hat es gern mehrdeutig, aber nicht zu sehr: „denn Lyrik lebt von offenen und widersprüchlichen Bedeutungen, Lücken, Entweder-Oders: hat eine Zeile zu viele mögliche Lesarten, wird sie beliebig. stehen alle Worte nur im Wortsinn brav am richtigen Platz, bleibt es banal“, und zwar das Gedicht „Eine zweite Meinung“. Ich habe Überschriften schon immer misstraut. Einen möglichen Ausweg aus dem Unverständlichkeitsverdikt hat Norbert Lange während seiner gründlichen Lektüre von Gunnar Ekelöf entwickelt: „Die besondere Qualität eines solchen Gedichts – oder seine Dunkelheit, wie manche sagen – läge nicht im Transport bestimmter, mal schwerer mal leichter verständlicher Informationen; vielleicht bestünde sie gerade darin, dass es darin keinen manifesten Sinn gibt.“ (http://signaturen-magazin.de/gunnar-ekeloef–xoanon.html) Stattdessen ermöglichte das Gedicht eine Emphase, die Bedeutung erst generiert – nicht aus den Wörtern, sondern durch die Wörter.“ Das wäre dann das Ende der Bequemlichkeit und des Schwierigkeitsbashings.
Die praktische Umsetzung dessen, worüber Rancière und Lange nachgedacht haben, hatten in den 1910er und 1920er Jahren Heroen und Heroinen von Futurismus, Expressionismus, MAERZ und DADA zu voller Blüte gebracht. In ihrem Essay „Verrückt dem gewöhnlichen Leben gegenüber“ erinnert Irene Gammel an die diesbezüglich einschlägigen „Dada Verse der Baroness Elsa von Freytag-Lohringhoven“ (http://karawa.net). Wollte man Ross Sutherland füchsisch ein Versäumnis vorhalten, würde man ihn der pragmatischen Variation dessen zeihen, was im 20. Jahrhundert bereits in vollständig radikaler Gebärde zelebriert wurde. Sowas machen Leute mit Spaß an der reinen Lehre. Ein Rückfall hinter bestimmte Plausibilitäten, die seit DADA u.a. in Geltung sind erscheint mir indes weder erstrebenswert noch lustvoll. Wer ärgste Radikalität erst anstreben müsste, um Fremdzuschreibungen, von Rivalen ausgesprochen, als zutreffend oder als unzutreffend zu eskamotieren, säße aber immer in einer für ihn eigens gezimmerten Kommunikationsfalle fest, wäre immer in der Defensive und in Erklärungsnöten.
Eine Skepsis gegenüber Sutherlands Poesien, die sich über weite Strecken auf Formalismen kapriziert, ist mir nicht geheuer und hat etwas von Mäkelei. Es spricht kein genießerisches Ich, sondern eine Störquelle. Es hat nichts mit einer Metrikpanne zu tun, dass Stefan Mesch hier und da „stolpert“, sondern es entspricht der Ablehnung von Gestus und Habitus der Sprechinstanz, vor allem ihrem Wechsel zwischen adrogyner Fragilité (Jean-Claude Van Damme, Experiment, Zweite Meinung, Richard Branson) und derber, auf einige Rezipient/innen vielleicht primitiv wirkender, Maskulinität (Ewige Leben, Zangief, Nackt III). Eine so dezidierte Ansprache ans Publikum, ein solcher Einbezug und auch solches Hinschreiben auf eine Bühnensituation, inklusive auch des Mutes, der dazugehört, sich derart zu exponieren, wird in der BRD zusehends seltener und ist eher bei den Geburtsjahrgängen 1971 bis 1979 zu finden, als bei früher oder vor allem bei später Geborenen; Mara Genschel, Charlotte Warsen, Christian Filips, Dagmara Kraus, Léonce Lupette, Jan Skudlarek, Richard Duraj und Ann Cotten sind diesbezügliche Ausnahmen. Dieser Charme des Unverschämten wird wohl peu à peu dem Chor, der Wagenburg weichen, gebildet aus dem Sentiment, sich in Communities einfügen zu müssen. Ein Bericht von Felix Stephan in der Süddeutschen vom 15. September 2014 unter dem Titel „Mit anderthalb Beinen im Grab. Schreiben 2020 – Deutsche Autoren suchen ihre Zukunft“ ist diesbezüglich sehr aufschlussreich. Warum nicht einfach von Grüppchenbildung und In-Group/Out-Group- Bockmist reden? Die einzige von Felix Stephan referierte Wortmeldungen, der ich beipflichten konnte war diejenige von Matthias Nawrat: „ich habe gar keine Angst.“
Nachfolgend noch die knappe und vorläufige Summe meiner Beobachtungen, soweit sie die Lesart der Poesien Ross Sutherlands durch Stefan Mesch betreffen.
Stefan Mesch schreibt hinreißend polemisch und forsch in einem brillant journalistischen Duktus, der die Fähigkeit zu beweglichem Denken nicht verbirgt; warum auch? Das provoziert sicher viele Kolleg/innen zu hitziger Wider- oder Mitrede bzw. hat das schon getan; vor allem derjenigen, die sich an Pfründen erfreuen, wie der Bär am Honig. Das hat Icebreaker-Qualitäten. Kompliment! Der subjektive Standpunkt Meschs hat aber bedauerlicherweise aber auch seine Grenzen. Denn subjektiv meint hier kaum: tentativ oder vorläufig, sondern es spricht ein Subjekt, das Autorität für seine Äußerungen beansprucht und Verantwortung für seine Konstruktionen übernehmen muss, ein Kommunikator (hier: Kulturradakteur bzw. „Profileser“). Literatur, das ist meine Befürchtung, wird über eine teils assoziative Sammlung von Vorurteilen (Ideen, Gefallen +/-) nicht sehr wahrscheinlich vermittelt. Wäre Ross Sutherland ein umfangreich ins Deutsche übersetzter britischer Dichterkollege, wäre diese Problematik weniger akut.
Hinter dem Subjetivitätsideologem werden von Stefan Mesch außerdem Lizenzen vermutet, fremdes Denken an eigenen Urteilen nicht nur zu messen, sondern auch das eine für das Maß dessen anderen zu nehmen; und das ist der Haken an der „Gefällt mir“-Herangehensweise; er hat auch einen Zug ins Zensuren-Verteilende und erscheint mir schon deshalb nicht unproblematisch. 2000 gab es mal ein Dichterranking: Der beliebteste Dichter der Deutschen wurde gesucht. Gewonnen hat natürlich der Schulautor Gottfried Benn, nicht der Könner Bertolt Brecht, der, glaube ich mich zu erinnern, auf dem zweiten Platz gelandet ist. Hätte Brecht gewonnen, wär das Unternehmen nicht weniger unsinnig gewesen. Mit Brecht kann man ja immer kommen, da nickt mittlerweile sogar die CSU, und verweist auf die Augsburgizität von Gevatter Brecht; wahrscheinlich kann man den Konservativen auch schon mit Majakowski kommen („Wow, das klingt ja wie Pound! Find ich auf jeden Fall spannend … Du so?“). – Es müssen doch Kriterien herangezogen werden, um reiche/wahrhaftige Subjektivität von ihrem Gegenteil zu unterscheiden. Das aber reicht über Geschmacksurteile und Rechten und Pflichten, die mit einem Urteil darüber verbunden sind, weit hinaus. Statt wirklich danach zu fragen, wie Sutherland Bilder generiert und warum das vielleicht absolut plausibel sein könnte (Prinzip der Benevolenz) wird über die Bild- und Motivwelt Sutherlands Meschs eigenes Koordinatensystem (Medienkindheit, Sozialisation) gestülpt. Höflich ausgedrückt ist das übergriffig, und etwas grundsätzlicher könnte man von der Kolonisierung einer Lebenswelt durch eine andere reden. Diese Kolonisationsversuche am Original stehen aber in direktem Widerspruch zum scheinbar harmlosen subjektiven Kritisieren. Nennen wir es mal die Ad-hoc-Falle. – Sollte ich mit all meinen Skrupeln falsch liegen, dann bin wohl auch ich etwas unzeitgemäß, old school. Warum meine freizeithermeneutische Vorgehensweise weniger plausibel sein sollte, und ich mich auf die (als Bitten getarnten) forschen Aufforderungen abzuändern einlassen sollte, bleibt im Nebel. Das sind wohl eher Temperaturunterschiede.
Das close reading, das Stefan Mesch betreibt, müsste man als noch verdienstvolleren Diskussionsbeitrag werten, wenn es nicht in den letzten beiden Jahren eine ganze Reihe von wichtigen poetologischen Statements (und zuweilen amüsant hochfahrenden Haltungsschulen-Ratschlägen) von Lyriker/innen für Lyriker/innen gegeben hätte: Im Frühjahr dieses Jahres ist die von Norbert Lange herausgegebene Anthologie „Metonymie“ (endlich doch noch!) erschienen; in Nummer 246 der Zeitschrift „die horen“ äußerte sich die Dichterzunft mittels Kollegenporträt auf Einladung von Kerstin Preiwuß und Jürgen Krätzer ausführlich und meist sehr instruktiv über Bewundertes und Problematisches fremder Poesie; Nummer 25 der „Kritischen Ausgabe – Zeitschrift für Germanistik & Literatur“ war der zeitgenössischen Literatur und der Reflexion darüber gewidmet, auch einige Beiträge über Lyrik beinhaltend; Walter Fabian Schmid hat jüngst einen Diskussionsbeitrag zum Thema Avantgarde und Experimentallyrik (ist „Quatsch“) auf „Lyrikkritik.de“ publiziert. Ergo: Wer den Beitrag von Stefan Mesch über den grünen Klee loben würde (sagen wir im Gestus des „Endlich sagt’s mal einer!“), dem könnte ich nur schulterzuckend die Frage stellen, ob sein Leseverhalten nicht eventuell zu konsonant ist, und ob er eher kein Interesse hat, auf dem neuesten Stand der Diskussion unter dichtenden Menschen zu sein. Die angebliche Bereitschaft zur Diskussion innerhalb der Poesieszene wird ja turnusmäßig gelobt! Da sollte man also ruhig mal einen Blick in die eine oder andere Zeitschrift riskieren. Das sind ja keine germanistischen Spezialdiskurse. – Es sind ja Klischees wie etwa: Es gibt gute verständliche, lebenssatte Lyrik („Realpoesie“, Poetry Slam, Eigentlichkeit der Provinz) und hermetische Weltfremdheit, die irgendeine schwer zu beurteilende Ausdrucksform gefunden hat, und dann bei „Verschrobenbooks“ (Preckwitz) verlegt wird, die auf dem besten Wege sind, sich im gesellschaftlichen Konsenssessel niederzulassen. Auch die gute alte „tageszeitung“ macht für solche „Unmutsbekundungen“ (http://lyrikzeitung.com/2014/09/19/63-unmut/) immer mal wieder gern Geld locker… In diesem Kontext, das muss Stefan Mesch klar sein, trägt er seine Thesen und ersten bis vierten „Ideen“ vor.
Im direkten Anschluss daran ein Bedenken, eventuell etwas old school, aber macht nix: Ein Kommunikator trägt auch eine nicht eben kleine Verantwortung, denn hier soll ja, wenn ich das nicht völlig falsch verstanden habe, ein Autor dem deutschen Literatur- und Diskursbetrieb vermittelt werden. Ich kann da keine Leichtfertigkeit entwickeln. Freilich, Stefan Meschs erwähnt auch positive Aspekte, aber, und das als offene und nicht als Suggestivfrage: Werden seine Äußerungen als das, was sie m.E. sind wahrgenommen, nämlich als ad-hoc-Betrachtungen oder eben doch als Literaturkritik? Das muss nicht als Aufforderung missverstanden werden, schamlos Werbung für einen bestimmten Autor zu machen, in diesem Fall Ross Sutherland – ich meine das zutiefst medienkritisch. Den Willkürlichkeitsverdacht, der allen Ideensammlungen (und Lyrikkatalogen) anhaftet, wird auch die flamboyante und beindruckende Ideensammlung von Stefan Mesch nicht los. Über Heuristiken lässt sich schwerlich streiten, weil es ja nur Vorstufen zu einem Essay oder zu Maximen o.ä. sind. Das erschwert die Diskussion eher, weil es in Kategorien wie >Oberhand-behalten<, >offensiv-defensiv< und denkt, Unverbindlichkeiten und Rückzüge ermöglichen soll, und letztlich zu bloß-rhetorischen Scharmützeln führt, die mich nicht interessieren, weil ich weder Rhetoriker noch Journalist bin.
Versuche, Lyrik zu popularisieren, nicht minder witzig geschrieben als die Ideensammlung von Stefan Mesch, gab es schon vorher, z.B. in der „Lyrischen Visite“ des Dr. med. Jakob Stephan, und, leider null humorvoll, neulich als „Kampfansage“ von Boris Preckwitz. Eine interessante Variante zum preckwitzschen „verschroben“, „süchtig“, „selbstmörderisch“ ist übrigens Stefan Meschs Generalverdacht meiner Übersetzung gegenüber („wirkt noch schmieriger, läppischer, hermetisch“). Wer andere als verschroben (Boris Preckwitz), infantil (Jürgen Brôcan) oder schmierig-hermetisch klassifiziert, glaubt offenbar sehr fest daran, damit eine Diskussion angestoßen zu haben; allerdings nicht mit mir, sondern höchstens über mich. Das Urteil dieser selbsternannten Volkstribune steht, die Verunglimpfungsparolen sind ausgegeben. Danke, reicht!
Kurzum: Es ist das Revival eines Krachs, der nach Mitherausgabe des Jahrbuchs der Lyrik 2008 durch Ulf Stolterfoht und seinen Essay zu Avantgarde und experimenteller Lyrik in Heft 17 der Zeitschrift „BELLA triste“ (2007), zwischen ihm und Axel Kutsch (Herausgeber der Anthologie „Versnetze“) infolge von dessen Replik „Kleine Ringschlacht“ (JbdL 2009) hätte ausbrechen müssen. Es ist, wenn mich nicht alles täuscht, ein Streit, dessen gut aufbereitete literaturwissenschaftliche Reflexion bereits 1979, Sutherlands Geburtsjahr und auch meinem, seinen Weg ins Buch fand: „Naturalismus/ Ästhetizismus“, herausgegeben von Christa Bürger, Peter Bürger und Jochen Schulte-Sasse (edition suhrkamp 992)
Auch aufgrund meiner Schreibschulzeit am DLL sind „gefällt mir (nicht)!“-Aussagen ein Gräuel. Ich kann nur jedem Mitmenschen, dem etwas an Literatur gelegen ist, dringend empfehlen, sich von sowas zu emanzipieren. Literatur, und Kunst überhaupt, fordern Vorurteile ja gerade heraus und sollten nicht Anlass sein, sie zu kultivieren! Wenn mir aufgefallen wäre, dass ich zu wenig Gutes über Ross Sutherlands Vorlage, auch zur Auswahlstimmigkeit sagen kann, hätte ich die Teilnahme an diesem Projekt abgesagt. Prinzip der Auseinandersetzung mit Texten und Meinungen ist m.E. die Benevolenz, ansonsten steht da nur ein Pappkamerad, mit dessen Zerprügeln manchmal manche einfach nur ihre eigene Limitiertheit und Statusangst oder Profilbildungsangst verbrämen wollen. Und das missfällt mir sehr!
Mir ist es irgendwann zur Notwendigkeit geworden, entweder Schriftsteller oder Rezensent zu sein. Ich konnte irgendwann nicht mehr völlig ausschließen, dass ich unbewusst meine Poetik oder Agenda verteidige, wenn ich rezensiere; war keiner von denen, die rezensierten, um kostenlos Bücher abzustauben. Ich mag auch Rezensionen von Dichterkolleg/innen nur noch in Ausnahmefällen lesen; und zwar deshalb, weil ich ihnen kein Wort glaube, egal ob Lob oder Dresche oder Kritik; Ausnahmen bestätigen wiederrum die Regel. Meine Skepsis kann natürlich Stefan Mensch und seine Kommentare nicht treffen, er ist eben Journalist, inklusive aller Tugenden und aller Schrullen des Berufs.
Ich stelle mir auch vor, dass Ross in seiner Grundschulzeit noch Atombunker unter dem Schulgebäude gezeigt wurden. Man hatte damals (als Kind!) emotional zu begreifen, dass alles jederzeit futsch sein kann, vom einen auf den anderen Moment. Man kann versuchen, solche Traumata und Totalerschütterungen aus seinem Schreiben herauszuhalten. Aber warum, verdammt, sollte man das tun? Warum sollte es nicht möglich sein, dass Kinder ihre Erziehungsberechtigten, Lehrer total versagen sehen? Und Tresen? Und Besoffene? Bloß weil man selbst das nicht kennt und ertragen musste? Warum soll man antikommunistische Indoktrination in der BRD, der man schon als Grundschüler ausgesetzt war, z.B. durch Konsumterror (Werbung, Video, Videospiele, …) nicht zum Thema machen? Besitzt das keine Literarizität? Welche Stil- und Gattungspolizei entscheidet das bitte? Auf welchem Wege Medienkritik geübt wird ist doch letztlich schnuppe. Meine Sympathie für den Verfasser des Zyklus „Nude “ mag auch von diesen gemutmaßten sozialisatorischen Ähnlichkeiten her rühren.
Sean Bonney (*1969 in Brighton/Südengland) schreibt in seinem „Rimbaudbrief“ von „gewöhnlicher Antikommunikation“ der „reaktionärsten Helden des Establishments“, die den Dadaismus korrumpieren (Schreibheft 79, S. 142). Mit seiner Überzeugung, Rimbaud via Marx lesen zu müssen, setzt Bonney sich selbst – zumindest für das „Lesende Deutschland“ (Martin Mosebach 2011 in der Kleistpreis-Laudatio auf Sibylle Lewitscharoff) – katastrophal selbst ins Unrecht. Das ist aber nicht schlimm, denn heute ist nicht morgen. So wie Bonney hat sich Sutherland gegen das entschieden, was für beide Autoren unter das Rubrum >Ästhetizismus< fallen muss; sowohl bei Bonney als auch bei Sutherland hat nicht „ein partielle[r] Verlust gesellschaftlicher Erfahrung eine zunehmende Komplexität der Innerlichkeit“ (Bürger u.a., Naturalismus/Ästhetizismus, a.a.O., S. 16) erzeugt, beide verbindet eine Weltsucht, die sie zu Ichflüchtigen macht. Das kann man ja einer Kritik unterziehen, man muss es aber zunächst einmal herausgearbeitet und nachvollzogen haben.
Ross Sutherland ist ein entfernter Neffe von Arthur Rimbaud, allerdings ohne die dekadenten Nebenerscheinungen, die Bonney an Rimbaud diagnostiziert hat. Niemand ohne besondere Gaben und große Kraft könnte mit siebzehn Jahren einen Text wie „Jean-Claude Van Damme“ verfassen. Der Aufstand nach der totalen Niederlage nötigt mir mehr Respekt ab, als das literatursimulierende Plaudern der >politischen Lyrik<, das bestenfalls ein Hasten von Ordenszeremoniell zu Ordenszeremoniell nach sich zieht, und eher früher als später bei der Befindlichkeitslyrik eines Hans-Ulrich Treichel oder eines Michael Buselmeier ankommen wird, als den Lyrikpolitikern der Jetzt-BRD lieb sein kann. Sean Bonney hingegen bezeichnet seine Lage als „gegengesetzlich“ („Rimbaudbrief“, a.a.O., S. 141), fühlt sich in London „eingesperrt“; er parallelisiert seine Situation mit derjenigen Arthur Rimbauds zu Zeiten der Pariser Commune, hält Rimbaud eine „Rückkehr zur kapitalistischen Tagesordnung“ vor (Bonney, a.a.O., S. 142). Bonney collagiert allerdings auch Rimbauds „Seher-Briefe“, ohne dies kenntlich zu machen, und zwar am Anfang und Ende des „Rimbaudbriefs“ (original: Letter on Poetics, in: Happiness – Poems After Rimbaud, Unkant Publishing 2011, pp. 63-65). Dieses Verfahren wendet auch Sutherland in „Richard Branson“ an, indem er Zeitungsmeldungen ins Gedicht implementiert, ohne dass es in irgendeiner Weise markiert würde. Das ist natürlich nicht nur traditionell-modernistisch (und eben nicht beliebig, lahmarschig, postmodernistisch), sondern auch als interaktive Geste zu verstehen: Man holt sich etwas zurück, enteignet Text der Offizial- und Herrschaftssprache; Poesietext wird dadurch materialisiert, anstatt dass elegischer Quatsch dabei rauskommt, oder der Weg zurück in die elitäre (Mach-es-neu-)Negation gewählt werden müsste. Ich würde ja gerne wissen, welche Ansichten Ross Sutherland zu folgenden Setzungen von Sean Bonney hat:
Ich möchte gern Poesie schreiben, die imstande wäre, eine dialektische Kontinuität innerhalb der Diskontinuität zu dynamisieren & auf diese Art alles sichtbar zu machen, was durch die Realismuspolizei ins Abseits gedrängt wird; wo das lyrische Ich – das Ding schon wieder – ein (1) Störenfried (2) Kollektiv sein kann; dort, wo wörtliche Rede und Unverständlichkeit nur noch als Synthese denkbar sind – als Synthese, die Ideen einbinden und aus den Schranken der Rebellion und des Illegalismus befreien kann. Die naheliegende Gefahr dabei ist die, daß verschwundene Ideen lediglich als tote Ideen oder als reanimierte Untote wieder auftauchen werden – der Terrorist … und zwar als demolierter Utopist, genau da, wo alle Teilstücke immer noch von genau dieser Bourgeoisie besetzt sind[.] Ich weiß sehr wohl, das hat nicht viel mit der handelsüblichen Auffassung von Poesie zu tun, aber, gern nochmal: ein solches Verständnis von ihr hab ich auch nicht. (Bonney, a.a.O., S. 143)
I looked at the poetry of Ross Sutherland before deciding to accept the invitation to translate it. I tried to look at these poems in a context-making way. Pompously I call that interpretation. My translation of it can only be of some worth if it is my translation, only when I am able to perform it, not just read it. The only difference between prose and poetry could be the fact that you can give a plain reading of prose without getting feedback: That’s a bit much! (Bookishness)
There are considerable differences between Ross’s poetry and my poetries, but nevertheless I admire his poems, and my admiration was confirmed during the process of putting the translation into writing. Of course you can do a different version, Stefan Mesch. So what? But one simple distinction must be accepted, because otherwise every discussion is unproductive in more than one way: There is poetry and its exact counterpart , its simulation – cheap showmanship, odd attitudes, encoded language of employers, the infringement of advertising, strategising claptrap: Poetry Slam, Poetryschlamm, Poetry Sludge. I can’t see what makes my translation a simulation of something.
I also admire Ross Sutherland for his encouraging involvement in creative writing, in which he helps people find their way through a shitty reality to poetry without any blacking from state institutions. Thus he shows an open-mindedness and love for poetry that have been completely lost by all those here in Germany and elsewhere who rubbish contemporary poetry, complaining of its oversupply, or even its export surplus, its coolness, they say, all-consuming as a tapeworm. Some German masterminds can obviously think in no other terms than economic or medical ones. Their numbers are growing rapidly. Of course this is a battle of mid-career-artists against emerging-artists. Communication has become a matter of strategy in Germany’s poetry industry (Literaturbetrieb). Dear Ross, you have to bear things like that in mind when you discuss poetry with German poets and feature writers. …
There are two dominant modes of speech. One has clearly autobiographical features with the claim to be authentic expression, confessional; the other mode is a hyperbolical ‘I’ in the tradition of carnevalesque speech (Michail Bachtin). I resist not a little an understanding of these as contrasting or even as contradictory attitudes such as clown v. revolutionary. For Sutherland, elegy and satire, and punishing satire at that, form not a dialectical structure but a wilful conflict situation. This often results in a brutal shifting from image to image; formally speaking, Sutherland partakes of the fruits of Naturalism as much as of those of Expressionism, whether he is aware of it or not. These traditions have not found a wide reception in Anglo-Saxon cultural circles. This opens the door to misunderstandings, which could lead to accusations of kitsch being levelled at their British practitioners. There could be similar reception problems in the affinity of a few British groupings with Marxism, such as the Cambridge School (cf. Norbert Lange’s preface to the selection (known lovingly as the “Brit Dossier”) of contemporary British poets featured in Schreibheft 79). Hadrian’s Wall fell long ago; the border within Germany, popularly known as “The Wall”, is still firmly fixed in German minds as a bogeyman figure, as a projection, a figure of pride and/or terror. Ross Sutherland is at least one escalation stage behind those who describe themselves as “political”. That, of course, makes it just that little bit more difficult to present him to the Hanseatic literary season as a sensation and a new discovery and slap a uniqueness label on him. A problem for journalists, not for me. Perhaps one shouldn’t go after these poetries with the genre-triad programme of über-poet Johann Wolfgang Goethe in the back of one’s mind; but that is exactly what Stefan Mesch is tacitly doing when he accuses Ross Sutherland of playing a cat-and-mouse game in his poem ‘Imfinite Lives’ (Mesch says, “only I don’t understand the eureka moment of the poem (or at least the outtake-bartender-beer- bar situation) myself in the slightest and that’s why I’m annoyed by this “Okay I finally get it” at the end of a text that I don’t get, and which is perhaps just written too simply or unclearly for any reader to get it…?”). In Politique de la littérature, Jacques Rancière finds a formula for the “literary misunderstanding” to which I have already referred in my commentary on ‘Nude III’:
This misunderstanding, just like the [political] breakdown, is played out to the detriment of the same paradigm of order, the beautiful life, seen as harmony of the members and functions in an organic whole. This model of the beautiful life is also the paradigm of correspondence and satiety. In this community there can be no names of bodies circulating as excess to actual bodies, no floating and supernumerary names which might be capable of constituting new fictions which would divide the whole and dissolve its forms and functionality. Nor can there be any superfluous bodies in the poem in relation to those necessary for the cohesion of meanings, no physical situations which are not connected to a meaning situation via a certain relationship of expression. (Rancière, The Politics of Literature, p. 58 in Richard Steurer’s German translation, Passagen Verlag, Vienna 2008)
This kind of perspective clearly gives poetry more licence than Stefan Mesch would like it to have. He likes it ambiguous, but not too ambiguous, please, “because poetry lives from open and contradictory meanings, gaps, either-ors; if a line has too many possible readings, it becomes arbitrary; if the words are well-behaved within the literal meaning and all in the right place, it becomes banal”. Namely the poem ‘A Second Opinion’. I have always distrusted titles. In his thorough reading of Gunnar Ekelöf, Norbert Lange has developed a possible way out of the verdict of incomprehensibility: “The particular quality of such a poem – or its darkness, as some would say – is not in transporting certain information of varying degrees of comprehensibility, but more perhaps in the fact that it does not make manifest sense. Instead, the poem makes an emphasis, a sense of urgency, possible, which generates meaning in the first place – not from the words but via or by means of the words.” (http://signaturen-magazin.de/gunnar-ekeloef–xoanon.html) This would then be the end of comfortableness and of difficulty-bashing,
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A communicator bears a responsibility which is not a small one, because, if I have not completely misunderstood it, this is where, after all, a writer is supposed to be mediated to the German literary and discourse industry. I cannot unfold any frivolity here. Admittedly, Stefan Mesch also mentions positive aspects; but, and I mean this as an open question and not a suggestive one, is what Mesch says perceived as what I take it to be, namely as as hoc thoughts, or as literary criticism? This should not be misconstrued as a demand for shameless advertising for a certain writer, in this case Ross Sutherland; I mean this in a media-critical way. The suspicion of arbitrariness that clings to all collections of ideas cannot be shaken off by the flamboyant collection of ideas of Stefan Mesch either. It is hard to get into disputes over heuristics, as they are after all just preliminary stages for an essay or for maxims and the like. This tends to make the discussion difficult more because it thinks in categories such as “keeping the upper hand”, or “offensive-defensive” and is supposed to make non-committal and retreat possible, finally resulting in skirmishes of a merely rhetorical nature, which do not interest me because I am neither a rhetorician nor a journalist.
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British poet and activist Sean Bonney writes about “simple anticommunication, borrowed today from Dadaism by the most reactionary champions of the established lies” (‘Letter on Poetics’, in: Happiness – Poems After Rimbaud, Unkant Publishing, p. 64), convinced of having to read Rimbaud via Marx’s ’Capital’ he can’t hope for any applause or even interest from “reading Germany” (Martin Mosebach, a conservative novelist from Frankfurt in Hessen). I suppose there’s a relationship between Ross Sutherland and Arthur Rimbaud, but without the aspects of decadence Bonney has diagnosed in regard to Rimbaud’s last poems. Only a man of great gifts can write a poem like ‘Jean-Claude Van Damme’ at the age of seventeen! The insurrection after a huge disappointment or trauma is more worth my respect than this chatty-chatty-bang-bang of a poetry that is called ”political” by its very own poets, well-behaved ones running from one awards presentation to the next awards presentation. Bonney in contrast describes his situation in London as “contra-legal”: “I ran out of normal life around twenty years ago. Ever since then I´ve been shut up in this ridiculous city, keeping to myself, completely involved in my work. … But now, surprise attack by a government of millionaires.“ (‘Letter’, p. 65) […] I’d really like to hear Ross’ opinion on the following dicta:
I dunno, I´d like to write a poetry that could speed up a dialectical continuity in discontinuity & thus make visible whatever is forced into invisibility by police realism, where the lyric I – yeh, that thing – can be (1) an interrupter and (2) a collective, where direct speech and incomprehensibility are only possible as a synthesis that can bend ideas into and out of the limits of insurrection and illegalism. The obvious danger being that disappeared ideas will only turn up ´dead´, or reanimated as zombies: the terrorist as damaged utopian where all of the elements, including those eclipsed by bourgeois thoughts are still absolutely occupied by that same bourgeoisie. I know this doesn´t have much to do with ´poetry´, as far as the word is understood, but then again, neither do I, not in that way. (Bonney, ‘Letter‘, op. cit., p. 65)
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kurze Texte zu den Gedichten von Ross Sutherland.
Text 7, zu “Jean-Claude van Damme”
Konstantin Ames schreibt hier. Kristoffer Cornils hier.
alle Texte von Stefan Mesch: [1. nude III] [2. Zangief] [3. try try try] [4. Branson] [5. Röntgen] [6. Experiment] [7. van Damme]
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erste Idee: seit zwei Stunden suche ich 80er- und 90er-Trash, in dem die Freiheitsstatue beschädigt oder umkämpft wird. Kristoffer Cornils vermutet, dass Ross Sutherland hier eine Szene aus Roland Emmerichs “Universal Soldier” zitiert… aber ich glaube, er hat sich vergoogelt (“van Damme” + “Statue of Liberty” = Text über dieses Mahnmal in Manhattan). ich selbst denke bei Ross Sutherlands Pastiche zuerst an die mörderschlechte, unbedingt sehenswerte Intro-Sequenz des “G.I. Joe”-Trickfilms von 1987.
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“Terminator” (eher 2 als 1), “Stirb Langsam” (eher 3 als 1; auf keinen Fall 2), “Escape from New York” waren wichtige Actionfilme für mich Mitte der 90er, zwischen 12 und 14. Jean-Claude van Damme aber sah ich nur in “Street Fighter” (ein Kreis schließt sich) und, aktueller, in einem viralen Video (auch hier: unbedingt öffnen!), in dem er mich halb anekelt, halb amüsiert. im Frühling las ich eine lange Reportage über die verpfuschten “Street Fighter”-Dreharbeiten in Thailand… und seitdem seitdem sehe ich van Damme weniger als den prototypischen (Eurotrash-)Helden der Direct-to-Video-Filme der 80er und 90er… sondern als den prototypischen, gut gelaunten, hedonistischen (Eurotrash-)Videotheken-Besucher. Schmierig, aber charmant:
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“Years later, Jean-Claude Van Damme admitted he had a serious drug problem while filming Street Fighter: The Movie. He also confessed to having an extramarital affair with co-star Kylie Minogue.
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From the actor’s August 2012 interview with The Guardian:
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“Yes,” says Van Damme, “Okay. Yes, yes, yes. It happened. I was in Thailand, we had an affair. Sweet kiss, beautiful lovemaking. It would be abnormal not to have had an affair, she’s so beautiful and she was there in front of me every day with a beautiful smile, simpatico, so charming, she wasn’t acting like a big star. I knew Thailand very well, so I showed her my Thailand. She’s a great lady.”‘
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zweite Idee: heute also kann ich Jean-Claude van Damme mit etwas gutem Willen als schrägen Vogel lesen, naiven Horndog, Loveable Jock. vor 20 Jahren aber, in der Unterstufe, standen solche Helden, Sportskanonen, Strahlemänner auf der Gegenseite: ein Schlumpf wie Schlaubi kriegt regelmäßig eins auf Maul, und in einem van-Damme-, Chuck-Norris-, Steven-Seagal- oder Bud-Spencer-Film hätte ich nur Opfer, Freak oder Widerling sein dürfen, Kinder wie ich werden Scar statt Simba, Jaffar statt Aladdin, Mel Gibson lässt in “Braveheart” einen Schwulen aus dem Fenster werfen… mit 12 versteht ein Kinderpublikum, welche Menschen in welcher Geschichte erwünscht / willkommen sind.
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wer hätte ich sein dürfen… im Erzählraum eines van-Damme-Films? höchstens der steife, blasse, tuntig-oder-sonst-irgendwie-sexuell-vermurkste Bösewicht? oder sein hoffnungsloser Sohn?
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dritte Idee: Ross Sutherlands Gedicht trifft bei mir einen Nerv. und funktioniert – auch über die bloße Grundidee hinaus – hervorragend: Atomsprengköpfe, eine Wand aus Fernsehschirmen, Honduras, Rom, Washington, Peru, geheime Bösewicht-Tattoos, böse Agenten mit bös verbrauchter Haut (“fahl”, wie Konstantin Ames übersetzt? oder eher teigig, gelbstichig? sind nicht die meisten solcher Handlanger nicht-weiß?), eine Privatinsel, prächtige Uniformen, viel zu rotes Blut… all diese Bilder und Motive sind so perfekt klischiert und abgegriffen, ich sehe den Film vor mir, in all seiner Pracht, gedreht zwischen 1987 und 93.
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besonders schön: Tattoos auf der Arschbacke? van Damme, der die Wachleute völlig nackt auszieht? warum sind solche Filme oft offen homophob – und bauen dann solche Kracher ein?
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vierte Idee: mir gefällt die Lesart, der Kunstgriff, Ross Sutherlands Idee, dass das Kind eines erfolglosen, vernichtend geschlagenen Bösewichts den Triumph Jean-Claude van Dammes auf Video sehen kann, egal, ob auf Überwachungs-Tapes aus dem geheimen Hauptquartier oder eben als tatsächlicher Hollywood-Trashfilm (weil der Vater nur einen Bösewicht spielt? weil der Vater ein realer Terrorist war, dessen Geschichte in einem Jean-Claude-van-Damme-Projekt nacherzählt wurde? weil ein profanes Kind seinen profanen Vater wieder erkennt – in der Sorte Verlierer und Terror-Strippenzieher, die Video-Helden wie Jean-Claude van Damme jedes Mal besiegen?) egal: Ross Sutherlands Gedicht funktioniert auf all diesen Ebenen. mehr noch: es funktioniert besonders gut, weil es all diese Ebenen, Lesarten zulässt.
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fünfte Idee: Fernsehen vs. das reale Leben. sich selbst auf Video sehen, sich selbst in Video-Figuren spiegeln, die eigene Geschichte in Popkultur erzählt bekommen, platte Helden, platte Feinde, platte Hollywood-Triumphe als Selbstbestätigung Amerikas, die Frage, ob der Bildschirm “die Wahrheit” zeigt und die grelle, künstliche Inszenierung “mehr Wahrheit” festhalten kann als das graue, tägliche Leben… das alles sind recht langweilig bekannte Gemeinschaftskunde- und Medienpädagogik-Fragen, und ich bin unsicher, ob Ross Sutherland viel Kluges, Neues beizutragen hat. trotzdem – auch, wenn die Fragen bekannt und die Klischeebilder abgegriffen sind: “Jean-Claude van Damme” hat mich von allen sieben hier veröffentlichten Arbeiten Ross Sutherlands am meisten überzeugt. gefällt mir!
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gern gelesen: unbedingt, ja! ich wünschte, ich würde Jean-Claude van Damme besser kennen und könnte beurteilen, ob der Text zu ihm passt… oder ob das selbe Gedicht auch “Dolph Lundgren” hätte heißen können.
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schlechtestes Wort: “There are reports of a life-sign inside the perimeter.” das “there are” wirkt clunky, unbeholfen. wer übermittelt dem Vater diese Nachricht?
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später / danach:
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“Runaways” erzählt von sechs Jugendlichen aus dem Marvel-Universum, die verstehen, dass ihre Eltern Superschurken sind. ich las letzten Herbst die ersten sechs von 52 Ausgaben… aber war nicht besonders überzeugt / interessiert.
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ein Übersetzungs-Tadel: ich glaube, “Dad puts a bullet through his general’s eye” soll heißen: “Papa verpasst / schießt seinem General eine Kugel zwischen die Augen”, nicht “Papa schiebt eine Kugel durch sein Generalsauge.”
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Musik-Assoziationen? ich denke an Bon Jovis platt-sympathische 90er-Jahre-Medienkritik “Real Life”: ein Song, der ähnliche Fragen stellt.
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und: fast eine Woche lang dachte ich, die letzte Ziele wäre “it’s not OK to lose”. hätte mir besser gefallen – und den Erzähler interessanter gemacht.
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weiter mit: meinem Abschluss-Statement, auf Englisch. erscheint am Dienstag, 23. September.
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Stefan Mesch, geboren 1983, schreibt für ZEIT Online und den Berliner Tagesspiegel. Er studierte Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus in Hildesheim, war Herausgeber von BELLA triste und Mitveranstalter des Literaturfestivals PROSANOVA und arbeitet an seinem ersten Roman, “Zimmer voller Freunde”. Als Liveblogger begleitete er u.a. das lit.futur-Festival 2013 und den Berliner Open Mike 2012. Buchtipps, Essays, Interviews und Texte auch auf seinem Blog… und erschreckend oft bei Facebook (Freund werden?).
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kurze Texte zu den Gedichten von Ross Sutherland.
Text 6, zu “Experiment to Determine the Existence of Love”
Konstantin Ames schreibt hier. Kristoffer Cornils hier.
alle Texte von Stefan Mesch: [1. nude III] [2. Zangief] [3. try try try] [4. Branson] [5. Röntgen] [6. Experiment] [7. van Damme]
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erste Idee: das ist zu lang. und als Video schöner / sympathischer:
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Ross Sutherland: Experiment to determine the Existence of Love (Youtube)
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zweite Idee: ich lese dieses Gedicht als schnelle, eitle, spielerische und bewusst ausschweifende Gedanken- und Ideenburg, ehrgeizig, bunt, kleinteilig… aber beliebig und nicht sehr stabil. so (Link).
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dritte Idee: alle Worte der deutschen Übersetzung alphabetisch sortiert, mit diesem Programm:
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*rogueelements* 1 2 22 3 4 5 6 ab Alkohol Alle Alle alle als an an an Angst-Pufferzone anhaltend Ankreuzkästchenstimuli Ansagen Anstalten Anwendung Anwesenden Apparat Attrappe auf auf auf Aufriss auftauchen Auge ausgelöst ausgemusterte Ausrichtung Aussprache Auto Bad bedenklicher bedeutender Bein berühren bilden bin birgt Blickwinkel bloß blutet blutrote Brille Bräunungsstreifen Busfahrschein Bürgersteige Charlie da Dann Das das das das das das Das dass dass Daten Daten davon dazu deinem dem dem den den Der der der der der der Der der der der der der Der Der des Diagnose dicke die Die die die die die die Die die die die die die Die die Die die dieses Diskussion diskutieren Doppelstöckige drollige durch durch durchgeknallter eben ehe eher ein ein Ein ein Ein ein Ein ein eine einen einer einer eines einfach eingerechnet einzelnen Element Endstadium entworfen Entwurf er er Ergebnisse Ergebnisse Ernährung erröten erscheinen erst erste erwarteten erwiesen Es evident Existenz Experiment Experiment Experiment falls falsche fangen Fehleinschätzung fest Flussdiagramme flüchtige folgen fortgeschrittene funktioniert Funktionsvorgänge für für fürs Ganze geborstene gebracht gegen gehängt Geister gelöscht gemacht gerade gerichtet gescheitertes Geschwisterargwohn Glasauge glatthäutiges gleicht gleichwertig hebt hervor Herz Herzfraktal hier hinter Humber Hypothese hätte höchstwahrscheinlich ich Ich ich ihr ihrem im in in In indes Infolgedessen ins ins ist ist ist Jalapeno Jazz jedem jeder jeder jenseits John JPEGs kann Kein kein kein keine Kellners Kerzenwachs klinische Knöchel kommen Kommentar Kontrolldaten Kontrolle kratzende Kühlschränke L Laborergebnissen Lakshmi Laryngophone Leib lese letzten Leute Liebe Liebe Liebe Linie Luftfeuchte Mann meine Meinung Merke messgeschieberten Methode mindestens Minuten Minuten mit mit mit mit mit Mitternacht Mond Mundwasser Muss Nachbartisch Nacht Nachweis Nehmen neu Neugier nicht nicht Null Nur offensichtliche Organe paar Parabelkurve Parker Pfeile Poster prescht qua Reaktionsfähigkeit reitet Salm Salons Schaubild scheitert schlage schlechter Schlussfolgerung schneller Schnitt schnitten schob schreiben Schummrige schwarzes Schwein Schwein Seele sein selbst Selbstmordgedanken Serotoninreserven sich sich Sicherheitsvorkehrungen Sicht sie sie sind sind sind singt Skala so so Sodann Sodann sollen sollte Spaghetticode Spiegel Spiel Spiel Spirale stapeln Statistenrolle steigt Stifte subatomaren suche Säugling Süße Tag Tag Tausenden Testphase Theorie tief Tippex Toilettenschmierereien treffliche treiben tu Uhr Um und und Und und und und und uns unsere unsere unsere unserm unter unter unterblieben untilgbar unzulänglich Venn Verband Verbindungen verblichenes verblüffende verbunden verglichen Verminderter verseuchter vertrauenswürdig von von von vor vorerst Voruntersuchungen vorwiegend waren wartende Weg weg Weise werden werden werden widerspiegeln wie wie wie wie wie wieder Winter wir wir wir wir wir wir Wir Wirbel wird wird wissen Wissenschaft wohl würde würde würden zehn zehn zeigt Zeit zu zugeschrieben zum zur zur zurücktreibt zusammenstießen Zustand zwei zwei Zweifelsohne überleben überzeugenden überzeugt – „Yesterday“
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vierte Idee: Humber? gegoogelt: Flussdelta in Nordengland. a faded poster of Lakshmi? gegoogelt: die hinduistische Göttin des Glücks. funny jpegs? ich weiß nicht, warum Ross Sutherland keine funny .gifs nimmt. John Venn? auch jemand, der 1000 funny Internetbilder macht. Laryngophon? gegoogelt: Kehlkopfmikrofon.
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und: ich war überrascht, dass “not a good day for [dieses], but not a bad day for [jenes]” kein feste Wendung ist. sounds very British.
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alle sechs Abschnitte des Gedichts haben andere Zeilenschemata. die Stelle, die für mich am besten funktioniert:
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The heart’s fractal. The clinical vision.
The exploded body. The bloodless incision.
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fünfte Idee: vieles hängt hier durch, hat keine Spannung, läufts ins Leere, verliert sich, bleibt unentschieden. lieblose (weil erstbeste) Bilder wie “a quick sketch of the soul”, “the spaghetti programming of the heart”, “crepuscular statements”, “the flowcharts stack up like decommissioned fridges”, “the night resembles a parabola curve”, “the thick, blood-red line surfaces like an insane, contaminated salmon”. unsaubere Perspektiven (“my sweetness”, “your calipered eye”, aber: “the way she lifts her leg into the waiting car”). und:
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Alle Anwesenden waren einer Meinung,
dass das Schwein eher hätte ins Spiel gebracht werden sollen.
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da stimme ich zu: das Baby auf dem schwarzen Schwein, die Saloon-Kulisse, der schlecht gespielte Kellner mit dem Glasauge… da wirds dann schnell zur Farce. das kommt zu spät und halbherzig.
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gerne gelesen? als Video hält es zwei Minuten meiner Aufmerksamkeit. die Printversion macht mich müde.
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schlechtestes Wort: “my sweetness”, weil es dem Text die Spannung nimmt und viel zu früh signalisiert: hier treffen sich nicht zwei Liebende, auf Augenhöhe. hier wird gespielt, gequatscht, die Frau bleibt ein Objekt / Untersuchungs-Utensil.
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später / danach:
“Big Brother” hat zwei große Probleme mit Begriffen, seit beinahe 15 Jahren: die Produzenten und die “Big Brother”-Stimme werden wütend, wenn Kandidaten sich als Teilnehmer eines “Projekts” bezeichnen. “Big Brother”, stellen sie klar ist kein Projekt. am wenigsten: ein Projekt, getragen von den Bewohnern. egal, wie es sich für sie, im Container, anfühlt.
Psychologen und Wissenschaftler werden wütend, wenn “Big Brother” “Experiment” genannt wird. denn Experimente brauchen eine Grundfrage: etwas soll be- oder widerlegt werden. ich fühle mich bei Lektüre von “Experiment to determine the Existence of Love” wie ein Kandidat, im falschen Container abgestellt: die Fragestellung passt nicht zum Text. die Vorgänge, Handlungen, Themen passen nicht zur Fragestellung. die Bildwelten und der Ton bleiben ironisch-lässig-windschiefe Spielereien. alles ist fadenscheinig, unfertig. half-assed.
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Konstantin Ames vermutet, der Text bleibt half-assed, um sich gegen die typischen Kritikmuster und -Anforderungen des Creative Writing zu stellen: the pig should have been introduced earlier? ein “Fuck you” an die Schreibschulen.
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Konstantin Ames übersetzt “a minimum of two strong drinks” mit “mindestens zwei Doppelstöckige” (toll. nie gehört!)
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…und beschreibt Segment Nr. 5 das Auf und Ab einer Erektion? gehts da um Penisse, in Wirklichkeit?
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weiter mit: Ross Sutherland, “Jean-Claude van Damme”
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Stefan Mesch, geboren 1983, schreibt für ZEIT Online und den Berliner Tagesspiegel. Er studierte Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus in Hildesheim, war Herausgeber von BELLA triste und Mitveranstalter des Literaturfestivals PROSANOVA und arbeitet an seinem ersten Roman, “Zimmer voller Freunde”. Als Liveblogger begleitete er u.a. das lit.futur-Festival 2013 und den Berliner Open Mike 2012. Buchtipps, Essays, Interviews und Texte auch auf seinem Blog… und erschreckend oft bei Facebook (Freund werden?)
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kurze Texte zu den Gedichten von Ross Sutherland.
Text 5, zu “A Second Opinion”
Konstantin Ames schreibt hier. Kristoffer Cornils hier.
alle Texte von Stefan Mesch: [1. nude III] [2. Zangief] [3. try try try] [4. Branson] [5. Röntgen] [6. Experiment] [7. van Damme]
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erste Idee: stell dir vor, Ross Sutherland plant ein Rodeo. doch er reitet keine Pferde, sondern Metaphern, und falls sich eine Metapher bäumt, ihn abzuschütteln droht, erzwingt er einen Richtungswechsel, damit sie sich vergaloppiert. so lange, bis die Metapher umfällt, kollabiert, beim Pferdeschlachter endet. aus jeder dritten… wird Lasagne!
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ein schiefes Bild? nein. mehr: “Metaphorgotten” nennt meine liebste Website für angewandte Erzählforschung, TVtropes.org, Metaphern, die sich so schwungvoll lange am Leben halten, dass sie… im Altersheim noch auf den Tischen tanzen: Vergleiche, bewusst absurd verselbstständigt. Sinnbilder, die sich so weit von ihrem ursprünglichen Bezug entfernen, dass sie unterwegs zu Rätselbildern werden.
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Metaphern also, die kurz Zigaretten holen gehen. dabei ihr Gedächtnis verlieren. nach Kassel ziehen, sich die Haare tönen und fünf Jahre später… eine Tabakhandlung öffnen. verspielt. vieldeutig. absurd.
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zweite Idee: “Eine zweite Meinung” ist über weite Strecken herzig, sympathisch und langweilig. denn Lyrik lebt von offenen und widersprüchlichen Bedeutungen, Lücken, Entweder-Oders: hat eine Zeile zu viele mögliche Lesarten, wird sie beliebig. stehen alle Worte nur im Wortsinn brav am richtigen Platz, bleibt es banal. ich kann weite Teile von Ross Sutherlands Gedichts wie einen Alltags- und Gebrauchstext lesen: mal wieder ein Ich. mal wieder ein Du. dieses Mal in einer drolligen Welt, in der Röntgenbilder auch das Gefühls- und Innenleben abbilden.
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oder (Möglichkeit 2): mit einem drollig-durchgeknallten Ich-Erzähler, der so tut, als ob.
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oder (3) mit einem nicht-so-drollig verrückten Ich-Erzähler, der im Wahn spricht.
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oder (4) in einer Welt wie unserer, in der zwei unglückliche Menschen in Metaphern die Zukunft ihrer Liebe verhandeln. ohne aber, dabei tatsächlich an “Gefühls-Röntgenbilder” zu glauben.
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egal: verstehen lässt sich das Hin und Her zwischen einem aufgewühlten Ich (“I told you what was in my heart.”) und einem “naturally” skeptischen Du (“You told me to prove it”) auf all diesen Ebenen mühelos, und welches die “korrekte” Ebene ist (und wer das festlegt: Ross Sutherland?), muss / kann – das ist das große Glück, die große Chance von Lyrik – nicht entschieden werden. aber: vier solcher simpler Lesarten heißt nur: simpel mal vier. das ist noch nicht, was ich mir wünsche, wenn ich die “offenen und widersprüchlichen Bedeutungen, Lücken, Entweder-Oders” guter Lyrik lobe.
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dritte Idee: denn trotz dieser vier Ebenen ist alles recht eindeutig erzählt, egal, ob nun Traum- oder Wahnwelt, Magie, Spinnerei oder bloß grauer Alltag dahinter stecken. Konstantin Ames’ Kommentar erklärt, wie literarisch bekannt / verbraucht die einzelnen Motive auf dem Röntgenbild auf ihn wirken. auch mir fehlt über weite Teile des Texts Raffinesse. bis dann die – tollen – “Metaphorgotten”-Rätselbilder kommen:
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ich kann mir zusammen reimen, warum ein Stück menschlichen Innenlebens mit einem “collapsing pier” verglichen wird. aber was genau “bedeuten” die Stare?
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“ein leerer Kleiderschrank”? gekauft! “ein toter Fuchs”? leuchtet mir ein. aber warum überlappen sich Kleiderschrank und Fuchs? hier wird es mehrdeutig. absurd und spannend: eine Röntgenaufnahme eines Brustkorbs wird vor ein Fenster gehalten und Nachbarn schauen darauf wie auf ein exhumiertes Grab, und das alles – das Innenleben des Erzählers = ein Bild seines Brustkorbs = ein exhumiertes Grab – sieht aus wie / erinnert an / kommt dem Erzähler vor wie “ein Skelett, das im Schornstein fest steckt”.
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mein Innenleben ist eine Röntgenaufnahme ist ein exhumiertes Grab ist ein Skelett, das im Schornstein fest steckt. großartig!
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vierte Idee: am Ende wird die Röntgenaufnahme (also: das Innenleben = das exhumierte Grab = das Skelett im Schornstein?) mit einem Septemberabend (…oder dem Bild eines Septemberabends) gleich gesetzt, der milde wirkt, doch dem man besser nur im Mantel entgegen treten sollte. “Ich habe darauf vertraut, dass du deinen Mantel mit dir nimmst” “on your way out” schiebt einen realen Ort, die Wohnung und das Wetter vor den Fenstern, gegen einen bildlichen: Geht das Du in die Welt des Röntgenbilds hinein… oder aus dem Apartment hinaus?
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“Wenn du einen Platz in meinem Herzen willst, zieh dich warm an!” oder doch “Du bist schon halb zur Tür / aus unserer Beziehung raus: Und draußen, allein im echten Leben, ist es so kühl wie in meiner Brust. Erkälte dich nicht, wenn du gleich gehst und mich alleine lässt!”
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fünfte Idee: “Occasionally you wonder if [Ross Sutherland] might be a parody of a poet and the joke is on us”, schreibt Tim Clare (Link). das ist hier, bei “A Second Opinion”, stärker als in allen sechs anderen Texten als Kompliment zu lesen: “Eine zweite Meinung” ist witzig, ohne albern zu sein. pointiert, aber nicht auf billige Pointen aus. ein süffiger, leichter, eindrücklicher Text. verständlich. aber – durch die Metaphern-Matryoshkas – geheimnisvoll statt platt.
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gerne gelesen? ja. ich kann verstehen, dass es unter den “comment”-Kommentatoren das bisher beliebteste Ross-Sutherland-Gedicht ist.
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schlechtestes Wort: zu viele amerikanische (Anfänger-)Kurzgeschichten, schrieb ein Creative-Writing-Professor oder New Yorker-Redakteur mal, enden mit dem Wort “home”. für mich setzt “on your way out” hier einen ähnlichen, etwas abgenutzten Effekt.
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später / danach:
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dass Ärzte oft eine zweite Meinung einholen, macht Sinn. dass Partner aber herumzweifeln, gar nicht wissen, was sie sehen und wie sie es bewerten sollen, am Ende sogar die Nachbarn um Kommentare bitten… greift gut, als böse, resignierte Metapher: ich habe dir mein Herz ausgeschüttet. aber du erkennst nichts. kannst mich nicht lesen, interpretieren, erkennen. und richtest dich nach den Meinungen der erstbesten Gaffer.
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keine Song-Assoziation, dieses Mal. aber eine Idee, um eigene Metaphorgotten-Rätselbildketten zu schreiben: eine Aufzählung wie in R. Kellys “The World’s Greatest” wird spannender und komplizierter, sobald alle Vergleiche aufeinander Bezug nehmen statt immer nur auf das selbe Erzähler-Ich. “I am a mountain / I am a tall tree / Oh, I am a swift wind / Sweepin’ the country”? lieber “Ich bin ein Berg, groß wie ein Baum. Ein Baum, schnell wie ein Wind” usw.
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mich enttäuscht, dass weder “Rorschach Ultrasound” noch “Rorschach X-Ray” gute Ergebnisse in der Google-Bildersuche bringen: beide medizinischen Techniken machen ein Innenleben sichtbar. aber sind für Laien schwer zu lesen.
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weiter mit: Ross Sutherlands »Experiment to determine the Existence of Love«
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Stefan Mesch, geboren 1983, schreibt für ZEIT Online und den Berliner Tagesspiegel. Er studierte Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus in Hildesheim, war Herausgeber von BELLA triste und Mitveranstalter des Literaturfestivals PROSANOVA und arbeitet an seinem ersten Roman, “Zimmer voller Freunde”. Als Liveblogger begleitete er u.a. das lit.futur-Festival 2013 und den Berliner Open Mike 2012. Buchtipps, Essays, Interviews und Texte auch auf seinem Blog… und erschreckend oft bei Facebook (Freund werden?)
Zu Lyrik äußerte Stefan Mesch sich in seinem Kommentar zu Sutherlands Zangief. Auf Facebook kam er damit so leicht nicht davon. Seht selbst:
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kurze Texte zu den Gedichten von Ross Sutherland.
Text 4, zu “Richard Branson”
Konstantin Ames schreibt hier. Kristoffer Cornils hier.
alle Texte von Stefan Mesch: [1. nude III] [2. Zangief] [3. try try try] [4. Branson] [5. Röntgen] [6. Experiment] [7. van Damme]
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erste Idee: ich schrieb nie eigene Gedichte. keine Lyrik aus 13 Jahren Unterricht hat mich erreicht / begeistert / überzeugt. ich kaufe (und verschenke) 200 Bücher jedes Jahr, doch habe noch nie einen einzigen Gedichtband bezahlt (halt: doch. aber kaum gelesen), ich habe keine Lieblings-Lyriker*innen und selbst Menschen, deren Lyrik ich oft mag (z.B. Monika Rinck, Andre Rudolph, aktuell besonders Malte Abraham) haben viel mehr Texte, die mich kalt lassen als solche, die mich begeistern. ich liebe Romane. Comics. Serien. viele Filme. aber Lyrik? schwyrik.
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2007 habe ich für BELLA triste über 200 Seiten Texte-über-Lyrik lektoriert, und dann ein Jahr lang immer neue poetologische Antworten gesucht, gesammelt und herausgegeben: wer Gedichte schreibt, wählt jedes Wort sehr überlegt. und deshalb können Lyriker*innen oft um Welten präziser, klüger über ihre Ansprüche, Sprache und Arbeit-mit-Sprache sprechen als alle anderen Künstler*innen: als Leser, als Journalist, als Literaturkritiker und Autor lerne ich SO viel, wenn Menschen über Lyrik sprechen. das lohnt sich jedes Mal!
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zweite Idee: “Richard Branson” macht mir Mühe. setzt mich unter Druck. mehr als alle anderen Ross-Sutherland-Gedichte bisher:
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ich kann (das wäre mir am liebsten) 18 kurze Gedichtzeilen lesen und bloggen, was diese Zeilen mit mir machen: was hängen bleibt. stört. reizt. gefällt. ins Auge sticht. oder mir misslungen scheint. es gibt ein Ich und ein “my love”, “cold hungover days” in Cambridge, eine weiße Sonne, unsympathische (?) Coworker und sieben Shreks, die in der Patsche hängen und weg laufen. das Ich bringt es nicht übers Herz, die Wahrheit zu sagen, das Du rückt (mütterlich? klammernd? herablassend?) die Krawatte zurecht, “ziehst sie fest und ich werde etwas älter”, und alles wirkt zu spät, verkniffen, vergeblich, verheimlicht und verpfuscht: “du denkst, dass du nur lange genug auf die Nudeln starren musst, um auf die Kombination des Safes zu kommen”.
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um den resignierten, traurigen Zweikampf dieses Paares besser zu verstehen, hilft mir ein Blick auf einzelne Wendungen: “trapped in the era”, “it’s impossible”, “[the money] will end up spent”, “I don’t have the heart”, “I am small and glassy”. 18 Zeilen Text, die fünf solcher “das geht nicht gut aus. alle sind müde!”-Formulierungen enthalten. keine Frage: die Worte stehen da bewusst. absichtlich. das sind Effekte, an denen Autor*innen lange feilen: beim ersten Lesen ahne, spüre, fühle ich eine erste Stimmung. das Gedicht ist “traurig, irgendwie” – reime ich mir zusammen.
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aber gehe ich wirklich noch mal kritisch, gründlicher durch alle Sätze,fällt auf, wie viel Mühe sich Lyrik mit solchen Sprach-Signalen gibt, um um Atmosphären, Stimmungen zu bauen: Ross Sutherlands 18 kurze Zeilen sind “irgendwie traurig”? das ist, als stünde ich einer Wohnung und denke “schick!” um dann zu merken: da stehen ja auch fünf Pianos. Statuen. Vasen voller Blumen! der Innenarchitekt hat in JEDE Ecke irgendwas gestellt, das signalisieren soll: “Oha. Edel!” so ähnlich wie die Frau, die 1990 im “Beverly Hills, 90210”-Pilotfilm durchs Bild läuft: vor der Armani-Boutique. im teuren Kostüm. mit Shopping Bags. und (Kalifornien!) einem Surfboard.
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dritte Idee: die Codes für Stimmung und Gefühle, die Ross Sutherland hier setzt, kann ich (und jeder sonst) problemlos knacken. doch will ich “Richard Branson” tiefer verstehen, brauche ich schon wieder Google: ich bin sehr froh, dass Kuratorin Simone Kornappel mir etwas Arbeit abnimmt und erklärende Links in den Text streut. für eine gute Stunde surfe ich hin und her, lese ihre Texte, lerne dazu und puzzle mir folgende komplizierte-charmante Cambridge-Anekdote zusammen (ohne zu wissen, ob das noch irgendwas mit Ross Sutherlands Gedicht zu tun hat).
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“okay, wait: so THIS lady“, schreibe ich auf Facebook, “made some Pulsar discovery in 1968 that got her colleagues a Nobel Prize …and led to THIS image… that ‘appeared in the Cambridge Encyclopedia of Astronomy in 1977, which is where Joy Division drummer Stephen Morris saw the design.‘”
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vierte Idee: wahrscheinlich ist das nur die Spitze des Bedeutungseisbergs – und ich müsste viel mehr über Cambridge, Rothko, Richard Branson und seine Platten- und Flugzeugfirma Virgin, Polarlicht und die Währung Südafrikas verstehen, um Ross Sutherlands Gedicht gerecht zu werden.
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aber hätte Ross Sutherland diesen Aufwand verdient? ich bin mir sicher, in “Richard Branson” sind, wie in allen anderen Ross-Sutherland-Gedichten, Unmengen kleiner Scherze, Verweise, Anspielungen vergraben. doch ich bezweifle, dass die Bedeutungs-Nuggets, die ich da ausgraben könnte – für mich persönlich – spannend genug bleiben, um nach drei Stunden Beschäftigung mit dem Gedicht jede Zeile noch einmal tiefer, gründlicher umzugraben will: Google? verrat mir alles über Richard Bransons Projekte am Polarkreis. welcher Rothko-Print ist “klein und glasig”? und so weiter.
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fünfte Idee: wäre ich mit Virgin, Richard Branson, Joy Division aufgewachsen, hätte ich Interesse an Rothko oder Cambridge (oder “Shrek”), ich würde tiefer graben. vielleicht versteht jeder Brite, warum Ross Sutherlands Gedicht “Richard Branson” heißt. Vielleicht würde ein deutscher Zwilling von Ross Sutherland sein Gedicht über eine scheiternde, schal gewordene Beziehung “Carsten Maschmeyer” nennen, oder “Rainer Calmund”.
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gerne gelesen? nein. und ungern kommentiert: ohne Branson-Bezug fühle ich mich unqualifiziert, über “Richard Branson” zu schreiben.
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schlechtestes Wort: nenn einen Künstler. den erstbesten! “Rothko.”
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später / danach:
ein Freund von mir bewundert Feldherren, Taktiker, gemeine Strippenzieher. und… Apple. wenn er Steve Jobs beschreibt, verschwimmt seine Bewunderung zu einem seltsamen psychologischen Helden-Brei. in einer meiner Lieblingsszenen aus “Mad Men” sollen Hundehalter über den Charakter ihres Hundes sprechen. doch sofort wird klar: niemand beschreibt den Hund. jeder Hundehalter erzählt, wie er selbst gerne wäre. ein Wunschtraum, projiziert auf die Tiere. dass sich Ross Sutherland mit Richard Branson eine fleischgewordene Midlife-Crisis sucht, langweilt und nervt mich: Branson, Zangief, Jean-Claude van Damme… wo liegt der Reiz all dieser alten Herren?
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nicht mal ein halbwegs passender Song fällt mir hier ein: vielleicht die Counting Crows? auch dort hadert oft ein trauriges Ich mit einem fernen Du.
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weiter mit: Ross Sutherlands »A Second Opinion«
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Stefan Mesch, geboren 1983, schreibt für ZEIT Online und den Berliner Tagesspiegel. Er studierte Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus in Hildesheim, war Herausgeber von BELLA triste und Mitveranstalter des Literaturfestivals PROSANOVA und arbeitet an seinem ersten Roman, “Zimmer voller Freunde”. Als Liveblogger begleitete er u.a. das lit.futur-Festival 2013 und den Berliner Open Mike 2012. Buchtipps, Essays, Interviews und Texte auch auf seinem Blog… und erschreckend oft bei Facebook (Freund werden?).
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kurze Texte zu den Gedichten von Ross Sutherland.
Text 3, zu “Infinite Lives (Try, try, try again)”
Konstantin Ames schreibt hier. Kristoffer Cornils hier.
alle Texte von Stefan Mesch: [1. nude III] [2. Zangief] [3. try try try] [4. Branson] [5. Röntgen] [6. Experiment] [7. van Damme]
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erste Idee: Kinderperspektiven langweilen mich. weil Kinder wenig schaffen, wissen, planen, das meiste verpatzen – und ihre Geschichte oft passiv und beschränkt erleben. viele Autor*innen wollen eine “ist das nicht putzig, magisch, zauberhaft und drollig?”-Stimmung erzwingen. doch Kinderhelden gehen mir auf die Nerven: mein Kindsein war schleppend, wirkungslos und dumm, und wer über das Glück des Kindseins schreiben will und nur den immer gleichen abgegriffenen Kinder-Kitschkram findet (“Das Sofa war eine Insel! Der Garten ein Dschungel! Mein Bett eine kuschelige Höhle! Unser Sommer wollte niemals enden!”), verliert meinen Respekt: Texte sind, wie alles andere, in 9 von 10 Fällen Schrott. doch Kindertexte leider: in 98 von 100 Fällen. dünnes Eis, Ross Sutherland.
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zweite Idee: das ist mein dritter Ross-Sutherland-Text. und der erste, der so britisch (schottisch?) erzählt, dass ich mir direkt Google zu Hilfe hole:
“try try try again” stammt vom britischen Pädagogen William Hickson.
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sind “lounges” und “living rooms” das selbe?
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haben Yorkie Easter Eggs immer diese Bagger- und Baustellen-Verpackung? ist das ein Schoko-Osterei für Jungs?
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Dixons ist eine Elektronik- und Haushaltswaren-Kette: “Saturn” in Britisch? aber es gibt keine Barmänner bei Dixons, oder? keinen Werbespot oder Dixons-Film (und dessen Outtakes), in dem eine Bar vorkommt?
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dritte Idee: viele kleine Effekte, Akzente im Text gefallen mir: wer steuert das leichte Fahrzeug (oder: Raumschiff?) über den Kaminsims? nicht “me”, nicht “my hand”, sondern “my mind”, denn diese Lenkmanöver werden im (Kinder-)Kopf geboren. der Erzähler weiß und betont das: Space Battles im Wohnzimmer sind Kopfsache!
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das selbe Kind, die selbe Kinderfantasie lässt “a billion ships” verbrennen und macht einem Yorkie-Ei den selben kurzen Prozess wie die “Star Wars”-Rebellen dem Todesstern. mich überzeugt auch die Fantasie, dass das Familienauto vom Weg abkommt, das Kind auf die Straße geschleudert wird und dann, Kopf voran, über eine Kreuzung rutscht / schlittert wie ein feuchtes Bier über den Tresen: für Kinder ist der Tod denkbarer, simpler, wenig tabuisiert. und wer alt genug für “Star Wars” ist, hat genug Autounfälle im Film gesehen. leichtfertig übers schnelle Sterben reden? machen Kinder oft. passt gut! gefällt mir sehr.
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zu dieser Leseweise passt auch der Titel: wer “unendlich viele Leben” hat in einem Videospiel, kann rumspinnen, alles ausprobieren, sich Zeit lassen. toben. Quatsch machen. wie ein Kind! am schönsten / besten aber gefällt mir eine Kleinigkeit: die Eltern spielen im Urlaub zusammen ein Spiel, in dem man Steine aneinanderfügen muss und hoffen, dass sie passen. eine schöne Metapher für: “Meine Eltern lieben sich, und haben versucht, zusammen zu passen”…?
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vierte Idee: müsste ich als Lektor mit “Infinite Lives” arbeiten, hätte ich eine Menge kleiner sprachlicher Kritikpunkte an Ross Sutherland: das lyrische Ich spielt nicht im eigenen Wohnzimmer, sondern bei irgend einem “Du”, das eine Großmutter hat. doch beide Figuren, Großmutter und Du, spielen sofort keine weitere Rolle. ich verstehe nicht, was mit dem Pkw-Armaturenbrett passiert: bauen es die Eltern beim Domino-Spielen in Frankreich immer wieder nach / um (“reconstructing” = umbauen), oder baut das Ich als Kind im Kopf immer neue Spielwelten auf diesem Armaturenbrett (“reconstructing” = in der Vorstellung neu aufbauen), bevor es aus dem Auto geschleudert wird? Kinder sitzen im Auto meist hinten: das Armaturenbrett ist ihrem Blickfeld recht fern.
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auch, was die Barkeeper tun, kann ich mir nicht erklären: Das Ich glaubt, sie seien “Simulanten” / “Fakers”, während (?) es zusieht, wie sie ein Bier “die Theke entlang schubsen”? wann sehen Kinder Wirte? und dass diese Wirte doch keine Fakers sind, wird dem Erzähler klar, als er die gelöschten und verpfuschten Szenen durchkuckt, die Outtakes? wo sieht er diese Szenen? wer zeigt sie ihm? was ist dort zu sehen: wie Barkeeper daran scheitern, ein Bier über den Tresen zu schubsen? das Bier herunterfällt? das “Wieder und wieder durchprobieren, bis es klappt”-Motiv dieser Strophe passt zum Titel. doch ich weiß nicht, welche echte, konkrete Bar-Szene im Leben eines Kindes ich mir hier vorstellen soll, und welche “Outtakes” denkbar wären. gefällt mir nicht.
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fünfte Idee: zum ersten Mal will ich auch Übersetzer Konstantin Ames an vielen Stellen widersprechen: “Infinite Lives” wären in der Videospiel-Logik besser “unendlich / ewig VIELE” Leben, nicht (ein) “ewiges Leben”. “um eine Lounge dreidimensional zu erfassen” ist mir zu technisch und schwammig: vielleicht besser “um alle drei Dimensionen eines Wohnzimmer zu verstehen”? statt “Nebeln” würde ich “Sternennebel” übersetzen und besser “Kaminsims” statt “-verkleidung”. [Edit: Konstantin Ames erinnert mich, dass er “Ewige Leben” übersetzt hat, im Singular: Das passt also. Ich habe schlampig gelesen!]
am wichtigsten: das Kind stürzt aus dem Auto und rutscht über die Kreuzung. da ist mir “segeln” als Verb zu sanft: der Kopf soll bitte “schlittern”, “klatschen”, “schäumen”. Hirnmasse! Blut! so nass wie Bierglas oder -flasche über den Tresen! das volle Kinderfantasie-Horrorprogramm.
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gerne gelesen? sehr gerne, ja. nur kommt es mir unfertig vor, schlecht überlegt, an vielen Stellen fadenscheinig. Mr. Sutherland, was haben Sie sich dabei gedacht? ich glaube nicht, dass Ross Sutherland hier die besten Worte fand, um zu zeigen, was er zeigen wollte.
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schlechtestes Wort: die “glittering skies” über Frankreich langweilen mich; und ich google seit zehn Minuten, was die “last words of the Death Star” gewesen sein sollen (“Standy, standby”? Oder Großmuff Tarkins “You may fire when ready”?). der sympathisch-flapsig-abrupte Abschluss, “OK I finally get it” gefällt mir sehr… nur kapiere ich selbst den Heureka-Moment des Gedichts (oder mindestens: die Outtake-Bartender-Bier-Theken-Situation) kein Bisschen. und deshalb ärgert mich das “alles klar!”, “OK, endlich hab ichs raus!” am Ende eines Textes, den ich nicht raus habe. und der vielleicht einfach zu schlecht / unklar geschrieben ist, als dass ein Leser es raus kriegen könnte…?
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später / danach:
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ich weiß nicht, warum man als Science-Fiction-begeistertes Kind ausgerechnet bei der Fahrt Richtung Elektromarkt (!) Todesfantasien hat.
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ich freue mich, dass “try, try, try again” bei William Hickson vermutlich eher stoisch und ermahnend gemeint war: “Übung macht den Meister”, “Immer wieder von vorne anfangen!”, “Arbeit, Arbeit, Arbeit”… doch in der Videospiel-Welt ganz risikoarm, leichtfertig benutzt wird, als Versprechen: “Einfach von vorne! Keine Konsequenzen! Nichts kann schief gehen!”
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Konstantin Ames fragt nach den Traumata und ECHTEN Unfällen, die eine Kindheit enden lassen, und kommentiert: “Eine durchaus mögliche Lesart ist die einer herbeigewünschten Katastrophe, die dann tatsächlich eingetreten ist; ein schrecklicher Autounfall, die für die Sprechinstanz beinahe tödlich endete, auch das abrupte Ende eines Kindheit; ein Trauma, dass auch der Suff nicht beheben konnte.”
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Kristoffer Cornils fragt ähnlich: “Irgendwo lauert immer »some great crash yet to come«, vielleicht wird er sogar herbeigesehnt. Um mal auszuprobieren, ob es wirklich Infinite Lives, unendlich Leben, in diesem einen gibt. Kurz speichern, was riskieren, dabei draufgehen, resetten und entspannt von vorn anfangen. Easy, oder?”
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Ross Sutherland veranstaltete 2009 einen “upbeat” Comedy- und Literaturabend namens “Infinite Lives”: “Last year, ESA (the Entertainment Software Agency) revealed that the average age of the most frequent game player is 33 years old. The children who began buying video games for their Atari 2600 in 1982 are still gripped 25 years later, somehow incapable of putting down the game controller and doing anything constructive, like putting up a shelf. No longer the preserve of childhood, video games have become a global phenomenon rippling though popular culture, influencing film, music, art, and even philosophy. Realising they are the same age as Pacman, three authors come together to produce an evening of entertainment dedicated to the secret language of computer games.”
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Protest gegen Produkte wie das “It’s not for Girls”-Yorkie-Egg sortiert sich u.a. unter dem Twitter-Hashtag #ichkaufdasnicht
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das schönste Lampenschirm-Großmutter-Wohnzimmer-Kaminsims-Foto aus Großbritannien, das ich kenne, ist hier.
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mein britischer Lieblings-Kindheits-Kitschsong ist “The Summerhouse” von The Divine Comedy.
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gelungene Kinderfiguren und -perspektiven? z.B. in Tove Janssons “Sommerbuch”, Ágota Kristófs “Das große Heft”, Carson McCullers’ “Frankie” und Harper Lees “Wer die Nachtigall stört”
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weiter mit: Ross Sutherlands »Richard Branson«
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Stefan Mesch, geboren 1983, schreibt für ZEIT Online und den Berliner Tagesspiegel. Er studierte Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus in Hildesheim, war Herausgeber von BELLA triste und Mitveranstalter des Literaturfestivals PROSANOVA und arbeitet an seinem ersten Roman, “Zimmer voller Freunde”. Als Liveblogger begleitete er u.a. das lit.futur-Festival 2013 und den Berliner Open Mike 2012. Buchtipps, Essays, Interviews und Texte auch auf seinem Blog… und erschreckend oft bei Facebook (Freund werden?).
kurze Texte zu den Gedichten von Ross Sutherland.
Text 2, zu “Zangief”
Konstantin Ames schreibt hier. Kristoffer Cornils hier.
alle Texte von Stefan Mesch: [1. nude III] [2. Zangief] [3. try try try] [4. Branson] [5. Röntgen] [6. Experiment] [7. van Damme]
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erste Idee: Gott. Zangief. so viele Figuren hätte ich als Kind gerne persönlich gekannt (eine Liste meiner Kindheits-Helden ist HIER, eine Liste der Videospiele, die für mich wichtig waren HIER): ich hätte von Dagobert Duck, Papa Schlumpf oder Donatello von den “Turtles” gelernt. Mrs. Brisby oder die Cosbys hätten mich gemocht… und würde ich morgen im “Street Fighter”-Universum aufwachen, ich denke, Chun-Li oder Dhalsim, notfalls Blanka, E. Honda, M. Bison würden mit mir Kaffee trinken: DAS sind die Street Fighter, zu denen ich Anschlusspunkte sehe, die mich auf irgend einem Level interessieren, mir wenigstens als Konzept, Idee sympathisch sind. Zangief macht mir Angst. Zangief macht mich platt. Zangief gehörte ab 1992 (ich war acht oder neun) in die selbe Ecke, in der auch Pippi Langstrumpf lauert, Roseanne oder Bart Simpson: Wären Zangief und ich Teil der selben Realität… ich wäre erledigt. Zangief würde mich ZERSTÖREN.
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haarig. verschwitzt. distanzlos. der tollwütige Blick. die engen Speedos. Bart und Frisur. und sein Spezial-Move, bei dem er den Kopf (!) des Gegners in den Boden rammt… als Heldencomic-Leser kenne ich eine MENGE schlechter, liebloser oder rassistischer Kämpfer- und Haudrauf-Figuren aus Russland. doch Zangief ist die widerlichste, brachialste Schablone für solche Vorurteile: mir gefällt, dass Ross Sutherland mit Rand- und Nebenfiguren meiner Kindheit literarisch arbeitet. aber wirklich: muss es Zangief sein?
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zweite Idee: “Black Island”? gibt es eine vielleicht russische Insel, die… oha: “eine Insel des Kurilen-Archipels. Sie gehört zu Russland, wird aber von Japan als Teil der Unterpräfektur Nemuro, Hokkaidō beansprucht.” Zangief ist die Karikatur eines russischen, chauvinistischen Unterdrückers, erfunden von japanischen Entwicklern. Konstantin Ames denkt das weiter: “Die Frage, die das Gedicht stellt, lautet: Warum sollte ein patriotischer Russe mit einem Bären ringen, der doch sein Land symbolisiert, und den er töten müsste, um den Kampf zu überleben? Wie würde er sich hinterher fühlen? Die Antwort darauf: Es wäre eine Tragödie.”
leider ist die Spielanleitung von Nintendo besser geschrieben, bildstärker, kulturell interessanter und macht mich nachdenklicher als das, was Ross Sutherland dann mit leierndem Rhythmus und Schwurbel-Kitsch-Klischeebildern hinzufügt. gefällt mir nicht.
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dritte Idee: vielleicht langweilt mich “Zangief”, weil hier linear ein einziger simpler Ablauf beschrieben wird: Gedichte stellen Ideen, Worte, Fragen und Bilder gegeneinander, die in 1000 Spannungen und Widersprüchen stehen: nirgends reibt sich so viel offene, nicht abschließend erklär-, entscheidbare Bedeutung auf engstem Raum. mir missfällt die simple, superdick aufgetragene Mann-gegen-Tier-Geschichte, weil sie mich nicht zum Nachdenken bringt oder überrascht.
Ross Sutherland beschreibt die Szene distanziert – und hämisch: Mann und Bär (und also: ganz Russland?) sind “Amputierte”, der “Pelz stinkt nach Scheiße”, die Sinne sind “benebelt”, sogar das Brechen des Genicks klingt “wenig überzeugend”. Konstantin Ames übersetzt “Partner” als “Gespiele” und macht die Szene damit noch schmieriger, läppischer, hermetisch. die Adjektive? “leer”, “schmal”, “dünn”, “wenig überzeugt”: ein dürftiger, trauriger Kampf.
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vierte Idee: Ross Sutherlands “nude III” warf für mich spannende Fragen auf. “Zangief” bleibt zu fadenscheinig, und ich frage ungeduldig und genervt: warum sieht der tote Bär als Bärenleiche auf dem Eis (?), aus wie “eine Flächenkarte von Russland”? unter dem Eis ist “rötlicher Schlick” (nein: auf dem Eis klebt Blut)? “he bleeds until he sees those stars again”: kann man auf der Insel (wegen den Bäumen?) keine Sterne sehen, sondern nur am Boot? geht es, wie Kristoffer Cornils vorschlägt, um kommunistische Sterne oder amerikanische Stars and Stripes? verstehe ich mehr, wenn ich über das Sternbild des Bären recherchiere? mir ist das alles zu vage. oder zu platt. missfällt mir.
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letzte Idee: Zangief hat Pelz auf den SCHIENBEINEN. und: nur da. der Rest seiner Beine ist haarlos.
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gerne gelesen? nein. eine unnahbare, platte und unsympathische Figur wird in einer Sprache beschrieben, die mir falsch, lieblos und aufgesetzt erscheint. “Street Fighter” handelt von Zweikämpfen. die ganze Spielreihe fragt seit über 20 Jahren neu, was passiert, wenn ZWEI Figuren, meist aus verschiedenen Ländern, aufeinander treffen. vielleicht fehlt Ross Sutherland hier vor allem ein würdiges Gegengewicht: der tote, traurige Bär auf dieser schwarzen Insel voll Eis ist kein interessanter / interessant beschriebener Gegner. oder “Gespiele”.
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schlechtestes Wort: “a waltz, a final dance” / “ein Walzer, ein letzter Tanz”: muss JE-DER Zweikampf auf den Tod immer mit einem TANZ verglichen werden? JE-DES Mal? von einem guten Lyriker erwarte ich mehr.
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später / danach:
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“the claw lacerations masked by ginseng” passt nicht ins Reimschema. ich stolpere bei jedem Lesen.
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“Zangief loves his country. But he loves to stomp on his opponents even more”: ich denke an die totalitäre Welt (und ein konkretes Zitat: “If you want a picture of the future, imagine a boot stomping on a human face — forever.”) aus George Orwells (tollem, zurecht geliebten) “1984” und frage mich, ob die amerikanischen Super-Nintendo-Bedienungsanleitungs-Autoren oder die japanischen Capcom-Programmierer Ende der 80er ABSICHTLICH den (totalitären) Russen zum (totalitären) Stampfer machten.
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…und wurde Zangief von Mr. Ts Rolle in “Rocky 3” inspiriert?
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“a man who wrestles bears for fun” = “ein Mann, der aus Übermut mit Bären ringt”? lieber hätte ich die Orginal-Übersetzung der deutschen Spielanleitung gelesen, von ca. 1991.
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“narrow skull” = “die schmale Rummel”? Kompliment an Übersetzer Konstantin Ames. ein Bärenschädel wird “Rummel” genannt?
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ich verstehe, dass Zangief ein Schönheitsideal trifft, vor allem bei schwulen “Bears”. er erinnert mich an japanische Bara-Manga und ich freue mich, dass ihn Fans auf Tumblr oft liebenswerter, tapsiger, Winnie-Puh-hafter darstellen als in den offiziellen Spielen. aber: ich verstehe, was Typen wie DIESEN Mann attraktiv macht. vor Zangief selbst habe ich weiterhin… NUR Angst.
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Ross Sutherland hat über alle 12 “Street Fighter II”-Figuren Gedichte geschrieben, jeden Text von Illustrator*innen gestalten lassen und sie als eBook veröffentlicht. erst, als ich diese eBook-Ankündigung lese, merke ich, dass da “Sonnet” steht, nicht einfach “Gedicht”. erklärt das die Spalten, Zeilenumbrüche, den Rhythmus? hat Ross Sutherland ein “korrektes” Zangief-Sonett geschrieben?
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Zangiefs “prototypical name”, verrät das “Street Fighter”-Wiki, “was Vodka Gobalsky.” na dann!
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Stefan Mesch, geboren 1983, schreibt für ZEIT Online und den Berliner Tagesspiegel. Er studierte Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus in Hildesheim, war Herausgeber von BELLA triste und Mitveranstalter des Literaturfestivals PROSANOVA und arbeitet an seinem ersten Roman, “Zimmer voller Freunde”. Als Liveblogger begleitete er u.a. das lit.futur-Festival 2013 und den Berliner Open Mike 2012. Buchtipps, Essays, Interviews und Texte auch auf seinem Blog… und erschreckend oft bei Facebook (Freund werden?).
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kurze Texte zu den Gedichten von Ross Sutherland.
Text 1, zu “nude III”
Konstantin Ames schreibt hier. Kristoffer Cornils hier.
alle Texte von Stefan Mesch: [1. nude III] [2. Zangief] [3. try try try] [4. Branson] [5. Röntgen] [6. Experiment] [7. van Damme]
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erste Idee: “bleichweiß”, “grau”, “ockerfarben”, “sepia”… und “dämmrig”. mir gefällt, wie man in fünf Worten eine ganze Farbpalette, Lichtstimmung durch einen Text streuen kann: hier funktionieren die Farben wie Gewürze und sie beeinflussen, färben jedes Bild und jedes Wort. nur die “ockerfarbenen Freundinnen” missfallen mir. weil Ocker so ein erdig-unklar-nichtssagender Farbton ist. wollte Sutherland etwas sagen wie: “Die Freundinnen sind graue Mäuse und alle irgendwie gleich“? oder waren sie im Solarium? oder sind sie dunkelhäutig?
so oder so: die Frauen hätten mehr Mühe, einen genaueren Blick verdient.
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zweite Idee: ein Dutzend offener Fragen. mir gefällt das! gehen Kinder in die “Schule der Gebrochenen Hälse”, um sich den Hals brechen zu lassen? oder läuft das wie in einer “Rückenschule”: Leute lassen sich dort behandeln? wozu hat Bethlehem ein Kniffel-Institut? welchem See soll der Stöpsel gezogen werden?
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am wichtigsten: WO spielt dieses Gedicht? an einer Universität, die “weltbekannt” dafür (oder: “famos” darin?) ist, ihre Farbe zu wechseln? hin und her zwischen “bleichweiß” und “grau”? und draußen, auf der Straße vor der Uni, verbreiten die Laternen Sepia-Licht? und vielleicht hat der Himmel die FARBE von “Warteschleifenmusik”? klingt alles sehr verwaschen. traurig.
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dritte Idee: vielleicht geht es Ross Sutherland um Basics, Standards, Ursprünge / das Erste, Einfache, Primitive… und auf der Gegenseite: das, was danach kommt: “Zivilisation”. Kultur. Errungenschaften. Vergeistigung. Moral.
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“Reptilian Brain” ist der Teil des Gehirns, den höhere Lebewesen mit Echsen gemeinsam haben: das einfachste Betriebssystem, das unsere wichtigsten, aber primitivsten Grundfunktionen lenkt. Ross Sutherland schreibt über eine Uni und eine “Legende” (warum “Legende”?), “wonach die höheren Aufgaben einer Universität um ein altes Reptiliengehirn angesiedelt sind”. was sind das für universitäre Aufgaben? gehört in-der-Bibliothek-“Festsitzen”(!)-und-kaum-aufstehen-Können dazu?
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im Gedicht kommen viele Menschen vor: Hockeyspieler, die Freundinnen “knallen”. Freundinnen, die von Hockeyspielern geknallt werden. “Junge Gemüter” in der Bibliothek. Leute im Imbisswagen, die abends ihre Abrechnung machen (und also: sich ums Geld kümmern. nicht darum, Leuten noch Essen anzubieten). “Das letzte Mitglied einer Improgruppe”, das uralten Heavy Metal hört, und – sicher kein Teil der Uni und ihrer “höheren Aufgaben” – “Azubikrankenschwestern”, die gut gelaunt die Arme “schlenkern”. mir gefällt die Grundfrage: was bringen Unis? was ist Zivilisation? oder auch: wenn du abends über einen Uni-Campus gehst und nachsiehst, wer sich dort bewegt: wie viel “Zivilisation” und “Höheres” siehst du?
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vierte Idee: ich mag Zivilisation. ich mag Unis. ich mag die Gegenwart. viele “früher war alles besser!”-Menschen schreiben “früher war alles besser!”-TEXTE, indem sie wütend, müde oder gelangweilt aufzählen, welche Neuerungen sie selbst für unnötig halten, oder für ein Zeichen von “Dekadenz”.
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Ross Sutherland zählt hier Dinge / Zivilisations-“Errungenschaften” auf, über die viele Menschen sagen würden “DAS braucht kein Mensch! DARAN kann man doch sehen, wie weit es schon gekommen ist: schöne neue Welt! WAS für ein Mist!” ein “Kniffelinsitut” (wer bezahlt so etwas? der Steuerzahler?), “passwortgeschützte Kurzgeschichten” (die armen Geschichten: jetzt werden sie versteckt und in Computern gefangen gehalten? wem nützt eine Geschichte, die von Computerprogrammen bewacht wird?), “junge Gemüter”, die “tief in der Bibliothek festsitzen” (die Jugend von heute! SO wird das nichts: Sesselfurzer, Theoretiker, Waschlappen!), ein “Imbisswagen, der geschlossen hat” (Hamburger machen dick! Untergang des Abendlandes!), die “Warteschleifenmusik des Himmels” (keine Musik ist verhasster als Warteschleifenmusik, und nichts ist sinnloser und entfremdeter, als in einer Warteschleife festzuhängen).
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mir missfällt, dass diese Bilder vage “gegenwartskritisch” sind… und auf eine ganz langweilige, alte, konservative und uninteressante Art und Weise bekannt. brutale Hockeyspieler? passive Bücherwürmer? die EINZIGE etwas vielschichtigere, halb überraschende Figur im Text ist das Improgruppen-Mitglied, das Iron Maiden hört. schade.
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letzte Idee: “Keller voller passwortschützter Kurzgeschichten” ist… blöd. ein unklares, schiefes Bild: was sind das für “Geschichten”? die Sexgeschichten der Hockeyspieler? mir missfällt das Original sogar noch mehr, denn dort heißt es “Basements hum with password-protected short stories”, die Keller BRUMMEN, SUMMEN, so LAUT ist der KRACH, den diese geheimnisvollen Geschichten da unten machen. huhu. bedeutungsschwanger.
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gerne gelesen? ja. mir gefallen viele einzelne Bilder, Stimmungen im Text, mir gefällt, dass er so viel Welt abbilden will, so viele Figuren hat. und mir gefällt der Humor, der in Worten wie “Kniffelinsitut” auftaucht. insgesamt aber habe ich das Gefühl, hier wird – recht platt – Zivilisationskritik geübt und Unis sollen irgendwie “entlarvt” werden, als traurige, einsame, hässliche, sinnlose Orte.
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schlechtestes Wort: “Legende”. Hirnforscher wissen SO viel – da muss man nicht von “Legenden”, Hörensagen, Märchen, Glaubensfragen sprechen. das Gehirn wird erforscht. und Unis, Lehrpläne usw. werden geplant, ganz rational und offen. das Wort “Legende” wirkt hier auf mich… wie ein naives Verneblungs-Zauberwort. fehl am Platz.
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später / danach:
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auch “nude”, der Gedichttitel, könnte eine Farbe sein. aber welche?
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wo sind “nude I” und “nude II”? Konstantin Ames hat recherchiert: “Das Gedicht gehört zum Eröffnungsteil eines zwölfteiligen Zyklus (http://www.rosssutherland.co.uk/main/book/twelve-nudes).”
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“slam” (jemanden gegen etwas drücken, rummsen) und “Knallen” (poppen?), das ist ein großer Unterschied: bei “slam” denke ich an Hockeyspieler, die ihre Freundinnen ruppig-leidenschaftlich gegen den Umkleidespind stoßen. bei “Knallen” denke ich an Vergewaltigungen oder mindestens: lieblosen, schlechten Sex.
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Farben, Grundstimmung und das Thema (“Wir beobachten die Menschen, Händler, Einwohner einer Stadt an einem grauen Abend”) haben mich an diesen kanadischen Song erinnert: “One Great City” von den Weakerthans.
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Kristoffer Cornils nennt das “Sepia der Straßenbeleuchtung” “instagrammig”. Foto-Filter. Social-Media-Kitsch-Effekte. stimmt! vielleicht beschreibt das Gedicht eine Welt, die so aussieht. vielleicht aber (böse, hämische Vermutung) MAG Ross Sutherland solche Kitsch-Filter selbst und will mit seinen Farbbeschreibungen die eigenen Gedichte im selben Stil einfärben. ich werde drauf achten, wie gefärbt / inszeniert / Instagram-kitschig seine anderen Texte sind.
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Kristoffer Cornils schreibt: “‘[O]chre girlfriends’, die von Hockeyteams misshandelt werden”. ich dachte “nur” an ruppiges Petting. Kristoffer Cornils an Misshandlung. oder ganze Gruppen-Vergewaltigungen? ich wünschte, Ross Sutherland hätte sich in der Beschreibung der Hockeyspieler und ihrer Freundinnen mehr Mühe gemacht: dann müssten wir nicht spekulieren, WIE schlecht es diesen Freundinnen geht, und WIE gefährlich oder böse diese Hockeyspieler sind.
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und: Kristoffer Cornils war in Tokio. großartig! ich sebst bin seit 2009 einmal im Jahr für je drei Monate in Toronto. aber: warum Ross Sutherland dort eine “School of Broken Necks” ansiedelt, kann ich mir nicht erklären.
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weiter mit: Ross Sutherlands »Zangief«
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Stefan Mesch, geboren 1983, schreibt für ZEIT Online und den Berliner Tagesspiegel. Er studierte Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus in Hildesheim, war Herausgeber von BELLA triste und Mitveranstalter des Literaturfestivals PROSANOVA und arbeitet an seinem ersten Roman, “Zimmer voller Freunde”. Als Liveblogger begleitete er u.a. das lit.futur-Festival 2013 und den Berliner Open Mike 2012. Buchtipps, Essays, Interviews und Texte auch auf seinem Blog… und erschreckend oft bei Facebook (Freund werden?).
Schwarze Schweine, verliebte Schuhe und Google als Aushilfs-Dichter: Ross Sutherland bei ¿Comment!
Ross Sutherlands Texte kamen gut an auf dem Blog. Sein Gedicht, „Infinite Lives (Try, try, try again)“ war einer der beliebtesten Beiträge überhaupt. Die Schüler erinnerten sich an die (konsolenreiche) Kindheit und diskutierten den Zusammenhang von Realität, Videospielen und Fantasie. Ross parodierte das eigene Gedicht und eine Schülerin ließ alle Ebenen in einem Gemälde zusammenfließen. Gezeichnet wurden auch schwarze Schweine und der Krieger Zangief im Kampf mit dem Bären – der Bär war aber nun deutlich im Vorteil. Simone Kornappel ließ Google Translator umdichten und kommentierte mit Hyperlinks. Die sorgten bei Profileser Kristoffer Cornils für soviel Verwirrung, dass er eine Debatte über Urheberrechte und Autorschaft begann, Stefan Mesch stellte derweil 99 Fragen an die Lyrik.
Die Schüler stritten besonders über „A second opinion“: Sind Liebesgedichte wirklich notwendig, fragten einige entnervt. Die Profileser kritisierten Ross’ Metaphorik als zu flach. „I just fell in love with this“, zeigten sich andere begeistert. Es entstanden eine Fotostrecke, ein Happy End und eine gesungene Britney Spears Version. Ein Video über verliebte Schuhe, ein letzter Brief vom inhaftierten Van Damme an seinen Sohn und ein Flarf-poem von gleich sechs Autoren sind nur einige der vielen Beiträge, die Schüler zu Ross posteten.
“After all, it’s all about having a dialogue, isn’t it? Let’s have it at eye level”, forderte Profileser Cornils zu Beginn des Projekts– mit der Diskussion zu Ross‘ Texten sollte er eigentlich zufrieden sein.
von Martina Koesling
Performances
Ross Sutherland & Simone Kornappel
DO, 20.11. | Lettrétage
Vincent Message & Gerhild Steinbuch
DI, 25.11. | Lettrétage
Fiston Mwanza Mujila & Jörg Albrecht
DO, 27.11. | Lettrétage
Christian Prigent & Christian Filips & Aurélie Maurin
COMMENTS
- Moritz bei Live-Blog zu Christian Prigent / lamentationen in lametta [zwei rd]
- Stefan Mesch bei Live-Blog I (cvb) / Performance Fiston Mwanza Mujila
- Konstantin Ames bei 18.11. Performance Ross Sutherland – Auftakt
- stonch bei Fiston Mwanza: Be-pop dans une nuit de beuverie
- Christian bei Christian Prigent: l’âme – tomber du jour #1
Comment in full swing!
Kommentar zu Ross Kommentar zu Meschs Kommentar zu Ross’ Gedicht Infinite Lives. Na, habt ihr den Überblick? 😉
von Martina Koesling