ross sutherland secod opinion 2

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kurze Texte zu den Gedichten von Ross Sutherland.

Text 5, zu “A Second Opinion”

Konstantin Ames schreibt hier. Kristoffer Cornils hier.

alle Texte von Stefan Mesch: [1. nude III] [2. Zangief] [3. try try try] [4. Branson] [5. Röntgen] [6. Experiment] [7. van Damme]

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erste Idee: stell dir vor, Ross Sutherland plant ein Rodeo. doch er reitet keine Pferde, sondern Metaphern, und falls sich eine Metapher bäumt, ihn abzuschütteln droht, erzwingt er einen Richtungswechsel, damit sie sich vergaloppiert. so lange, bis die Metapher umfällt, kollabiert, beim Pferdeschlachter endet. aus jeder dritten… wird Lasagne!

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ein schiefes Bild? nein. mehr: “Metaphorgotten” nennt meine liebste Website für angewandte Erzählforschung, TVtropes.org, Metaphern, die sich so schwungvoll lange am Leben halten, dass sie… im Altersheim noch auf den Tischen tanzen: Vergleiche, bewusst absurd verselbstständigt. Sinnbilder, die sich so weit von ihrem ursprünglichen Bezug entfernen, dass sie unterwegs zu Rätselbildern werden.

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Metaphern also, die kurz Zigaretten holen gehen. dabei ihr Gedächtnis verlieren. nach Kassel ziehen, sich die Haare tönen und fünf Jahre später… eine Tabakhandlung öffnen. verspielt. vieldeutig. absurd.

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zweite Idee: “Eine zweite Meinung” ist über weite Strecken herzig, sympathisch und langweilig. denn Lyrik lebt von offenen und widersprüchlichen Bedeutungen, Lücken, Entweder-Oders: hat eine Zeile zu viele mögliche Lesarten, wird sie beliebig. stehen alle Worte nur im Wortsinn brav am richtigen Platz, bleibt es banal. ich kann weite Teile von Ross Sutherlands Gedichts wie einen Alltags- und Gebrauchstext lesen: mal wieder ein Ich. mal wieder ein Du. dieses Mal in einer drolligen Welt, in der Röntgenbilder auch das Gefühls- und Innenleben abbilden.

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oder (Möglichkeit 2): mit einem drollig-durchgeknallten Ich-Erzähler, der so tut, als ob.

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oder (3) mit einem nicht-so-drollig verrückten Ich-Erzähler, der im Wahn spricht.

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oder (4) in einer Welt wie unserer, in der zwei unglückliche Menschen in Metaphern die Zukunft ihrer Liebe verhandeln. ohne aber, dabei tatsächlich an “Gefühls-Röntgenbilder” zu glauben.

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egal: verstehen lässt sich das Hin und Her zwischen einem aufgewühlten Ich (“I told you what was in my heart.”) und einem “naturally” skeptischen Du (“You told me to prove it”) auf all diesen Ebenen mühelos, und welches die “korrekte” Ebene ist (und wer das festlegt: Ross Sutherland?), muss / kann – das ist das große Glück, die große Chance von Lyrik – nicht entschieden werden. aber: vier solcher simpler Lesarten heißt nur: simpel mal vier. das ist noch nicht, was ich mir wünsche, wenn ich die “offenen und widersprüchlichen Bedeutungen, Lücken, Entweder-Oders” guter Lyrik lobe.

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dritte Idee: denn trotz dieser vier Ebenen ist alles recht eindeutig erzählt, egal, ob nun Traum- oder Wahnwelt, Magie, Spinnerei oder bloß grauer Alltag dahinter stecken. Konstantin Ames’ Kommentar erklärt, wie literarisch bekannt / verbraucht die einzelnen Motive auf dem Röntgenbild auf ihn wirken. auch mir fehlt über weite Teile des Texts Raffinesse. bis dann die – tollen – “Metaphorgotten”-Rätselbilder kommen:

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ich kann mir zusammen reimen, warum ein Stück menschlichen Innenlebens mit einem “collapsing pier” verglichen wird. aber was genau “bedeuten” die Stare?

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“ein leerer Kleiderschrank”? gekauft! “ein toter Fuchs”? leuchtet mir ein. aber warum überlappen sich Kleiderschrank und Fuchs? hier wird es mehrdeutig. absurd und spannend: eine Röntgenaufnahme eines Brustkorbs wird vor ein Fenster gehalten und Nachbarn schauen darauf wie auf ein exhumiertes Grab, und das alles – das Innenleben des Erzählers = ein Bild seines Brustkorbs = ein exhumiertes Grab – sieht aus wie / erinnert an / kommt dem Erzähler vor wie “ein Skelett, das im Schornstein fest steckt”.

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mein Innenleben ist eine Röntgenaufnahme ist ein exhumiertes Grab ist ein Skelett, das im Schornstein fest steckt. großartig!

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vierte Idee: am Ende wird die Röntgenaufnahme (also: das Innenleben = das exhumierte Grab = das Skelett im Schornstein?) mit einem Septemberabend (…oder dem Bild eines Septemberabends) gleich gesetzt, der milde wirkt, doch dem man besser nur im Mantel entgegen treten sollte. “Ich habe darauf vertraut, dass du deinen Mantel mit dir nimmst” “on your way out” schiebt einen realen Ort, die Wohnung und das Wetter vor den Fenstern, gegen einen bildlichen: Geht das Du in die Welt des Röntgenbilds hinein… oder aus dem Apartment hinaus?

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“Wenn du einen Platz in meinem Herzen willst, zieh dich warm an!” oder doch “Du bist schon halb zur Tür / aus unserer Beziehung raus: Und draußen, allein im echten Leben, ist es so kühl wie in meiner Brust. Erkälte dich nicht, wenn du gleich gehst und mich alleine lässt!”

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fünfte Idee: “Occasionally you wonder if [Ross Sutherland] might be a parody of a poet and the joke is on us”, schreibt Tim Clare (Link). das ist hier, bei “A Second Opinion”, stärker als in allen sechs anderen Texten als Kompliment zu lesen: “Eine zweite Meinung” ist witzig, ohne albern zu sein. pointiert, aber nicht auf billige Pointen aus. ein süffiger, leichter, eindrücklicher Text. verständlich. aber – durch die Metaphern-Matryoshkas – geheimnisvoll statt platt.

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gerne gelesen? ja. ich kann verstehen, dass es unter den “comment”-Kommentatoren das bisher beliebteste Ross-Sutherland-Gedicht ist.

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schlechtestes Wort: zu viele amerikanische (Anfänger-)Kurzgeschichten, schrieb ein Creative-Writing-Professor oder New Yorker-Redakteur mal, enden mit dem Wort “home”. für mich setzt “on your way out” hier einen ähnlichen, etwas abgenutzten Effekt.

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später / danach:

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dass Ärzte oft eine zweite Meinung einholen, macht Sinn. dass Partner aber herumzweifeln, gar nicht wissen, was sie sehen und wie sie es bewerten sollen, am Ende sogar die Nachbarn um Kommentare bitten… greift gut, als böse, resignierte Metapher: ich habe dir mein Herz ausgeschüttet. aber du erkennst nichts. kannst mich nicht lesen, interpretieren, erkennen. und richtest dich nach den Meinungen der erstbesten Gaffer.

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keine Song-Assoziation, dieses Mal. aber eine Idee, um eigene Metaphorgotten-Rätselbildketten zu schreiben: eine Aufzählung wie in R. Kellys “The World’s Greatest” wird spannender und komplizierter, sobald alle Vergleiche aufeinander Bezug nehmen statt immer nur auf das selbe Erzähler-Ich. “I am a mountain / I am a tall tree / Oh, I am a swift wind / Sweepin’ the country”? lieber “Ich bin ein Berg, groß wie ein Baum. Ein Baum, schnell wie ein Wind” usw.

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mich enttäuscht, dass weder “Rorschach Ultrasound” noch “Rorschach X-Ray” gute Ergebnisse in der Google-Bildersuche bringen: beide medizinischen Techniken machen ein Innenleben sichtbar. aber sind für Laien schwer zu lesen.

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weiter mit: Ross Sutherlands »Experiment to determine the Existence of Love«

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Stefan Mesch, geboren 1983, schreibt für ZEIT Online und den Berliner Tagesspiegel. Er studierte Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus in Hildesheim, war Herausgeber von BELLA triste und Mitveranstalter des Literaturfestivals PROSANOVA und arbeitet an seinem ersten Roman, “Zimmer voller Freunde”. Als Liveblogger begleitete er u.a. das lit.futur-Festival 2013 und den Berliner Open Mike 2012. Buchtipps, Essays, Interviews und Texte auch auf seinem Blog… und erschreckend oft bei Facebook (Freund werden?)

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