Donnerstag, 20. November 2014, 19:00 Uhr, Eintritt frei
¿Comment! – Performance mit Vincent Message
– kuratiert von Gerhild Steinbuch-
Jedenfalls steht fest: Papier ist geduldig. Nein, Papier ist gefährlich. Man weiß nie, in welche Hände es gerät, gute oder schlechte.
Herzlich willkommen zum Nexus-Labor.
Nexus, das ist die Hauptfigur in Vincent Messages Debütroman „ Les Veilleurs“, ein Nachtwächter, der eines schönen Morgens auf die Straße geht, drei Personen erschießt, und sich anschließend auf den Leichen schlafen legt. Nexus ist aber vor allem eines: Ein Träumer. Mehr noch: Eine Geschichte, die sich selbst erzählt und dadurch erst fest wird. Das Nexus-Labor erzählt die Geschichte weiter. Und den Raum, in dem sich diese Geschichte befindet.
von und mit:
Vincent Message
sowie
Denis Abrahams (voice)
Nadine Finsterbusch (voice&music)
Thomas Köck (beamer)
Karen Suender (voice)
Gerhild Steinbuch (beamer)
Valentin Tritschler (sound)
Unter Verwendung von Auszügen aus dem ersten Roman „Les Veilleurs“ des französischen Autors und Kommentare seiner Leser, darunter Carolin Beutel, Karen Suender und Denis Abrahams sowie Schüler der Evangelischen Schule Köpenick und der John F. Kennedy School
Zweisprachige Lesung (deutsch/französisch)
Die Lettrétage dankt den Förderern und Partnern!
Lettrétage, Mehringdamm 61, Nähe U7/U6 Mehringdamm
Vincent Message wurde 1983 in Paris geboren. Er studierte Literatur- und Geisteswissenschaften an der École Normale Supérieure. Nach einigen Jahren in Berlin und New York unterrichtet er seit 2008 Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Paris VIII. Sein erster Roman „Les Veilleurs“ (Die Wächter) wurde im August 2009 im Verlag Éditions du Seuil veröffentlicht.
Gerhild Steinbuch, 1983 in Mödling geboren, studierte Szenisches Schreiben in Graz und seit Herbst 2012 den Master der Dramaturgie an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch in Berlin. Derzeit schreibt sie im Auftrag der Opéra de Lille das Libretto für eine Oper von Wolfgang Mitterer, deren Uraufführung für die Spielzeit 2015/16 geplant ist, sowie an einem Auftrag für das Schauspiel Leipzig. Gemeinsam mit Jörg Albrecht erarbeitet Gerhild Steinbuch derzeit eine Performance für den Steirischen Herbst.
Kuratorisches Statement:
In meiner Auswahl habe ich mich für Vincent Message entschieden, einen französischsprachigen Autor, der wie ich 1983 geboren ist und in Paris lebt. Meiner Auswahl geht kein persönliches Bekanntschaftsverhältnis voran und kein Aufeinandertreffen. Ich wollte gerne eine Autorin / einen Autor einladen, der kann, was ich nicht kann, nämlich erzählen; der aber so erzählen kann, dass ich verstehe, warum erzählt wird, weil ich das meistens nicht verstehe: Das Erzählen trabt dann nämlich vor sich hin in gerader Sprache, trägt eine Geschichte vor sich her, behauptet eine Unmittelbarkeit, die es sich selbst gar nicht glauben kann und ich als Leserin erst recht nicht, weil ich gar nicht weiß, was diese Unmittelbarkeit sein soll, die sich dann auf mich als Gefühl zu übertragen hat, das aber eh nichts mit meiner Körperlichkeit zu tun hat.
In „Die Wächter“, seinem ersten Roman, greift Vincent Message ein Genre auf – das des Kriminalromans. Ein Mann erschießt auf der Straße drei Menschen und schläft auf ihren Leichen ein. Er wird verurteilt, seine Zurechnungsfähigkeit soll geklärt werden. Mich interessiert an Vincents Messages Text, dass die Frage nach der Zurechnungsfähigkeit hier nicht bloß eine handlungsgebundene, sondern eine formimmanente ist: Was ist feststehend, was wankt, mit welchen gesicherten Parametern, die die Welt begrenzen, kann hier überhaupt operiert werden, und wo beginnt die Welt und wo hört sie auf? Der Autor schafft eine Figur und setzt sie aber nicht als fest, sondern die Figur begreift sich selbst als Konstruktion, die in einer großen Geschichte steht, so lange sie nicht mit dem Reden aufhört. Das bewirkt, dass die Erzählung nicht einfach abläuft und trotz eines erzählenden Ichs gesichert ist, geordnet; sondern dass ich mich selbst orientieren muss, zurechtfinden oder eben auch nicht, dass ich also wirklich eintauche in eine andere Welt, gerade weil ich sie nicht immer überblicken kann, gerade weil ich mich selbst orientieren muss und das manchmal nicht kann und das aber nicht bloß denke, sondern auch spüre, ohne aufgedrängten Identifikationszwang.
Romanauszüge aus “Les Veilleurs” (frz/dt.) von Vincent Message
Kommentare zu den Romanauszügen
Video-Vorstellung des Romans Die Wächter (französisch)
Thomas Köck zu Fiston Mwanza Mujila, Tram 83
© Edward Burtynsky
und irgendwann ist mir passiert, was mir meistens passiert, wie man vielleicht bemerken kann, ich schweife ab so dann und wann, und denke über etwas ganz anderes nach. über mein eigenes lesen zum beispiel. ich lese parasitär. weil ich immer schon mitschreibe, aus angst, dass ich nicht mehr kommuniziere, glaube ich. ich sehe ob ich mich einklinken kann in eine sprache, eine sicht, eine welt, einen ort, vor allem wahrscheinlich in die sprache, und wenn, dann beute ich diese sprache aus, gnadenlos, ich glaube aus einer ikonoklastischen überzeugung heraus, um mich vor dieser sprache irgendwie zu schützen, um sie zu entwerten auch, das ist ein recht gewaltvoller vorgang stelle ich gerade fest.
ikonoklasmus der sprache – kein auslöschen, verbrennen, durchstreichen eher eine imitation einer sprache. sie von ihrem hohen ton herabreißen. sie dadurch verspotten. sie noch viel lauter sprechen lassen.
Au moindre saxophone, le grand déguisement.
ich fange an in dieser sprache zu denken und in dieser sprache dann auch eine weile zu schreiben, es ist wie ein rhythmus, der sich über alles drüberlegt, wie ein lieblingsalbum, das man ein jahr lang rauf und runter und dann gehts plötzlich nicht mehr und man weiß gar nicht, ich weiß gar nicht, warum, bis ich etwas anderes zu lesen bekomme und dann die sprache wechsle, andere klangfarben schätze, bis ich sie nicht mehr aushalte, und weil ich recht viel gleichzeitig lese meistens und sachen auch oft nicht zu ende, wodurch ich dann nie wirklich verstehe, worauf eine sprache hinausläuft, vermischen sich die sprachen oft recht wirr und ich versuche dann eher zu vermitteln zwischen ihnen, zwischen den verschiedenen kontinenten dieser unzähligen sprachen. und überlege mir dann immer, wer da jetzt eigentlich genau, also welcher ton, welches instrument, welche geschichte, welche färbung, welcher hintergrund, welche melodie und wie man das mit dem übrigen ensemble zusammenpacken kann.
ich lese tram 83 mittlerweile auf französisch
wie ein beatnik gedicht
Il avait suffisamment
analysé la gamine
et l’avait même
imaginée
sur son grabat
malgré la pénombre.
Il l’attira contre son corps,
demanda son nom,
«appelle-moi Requiem»,
promena ses doigts
sur les mamelles
de la jeune créature,
une autre phrase:
«Tes cuisses, la prestance
d’une bouteille
de vodka …» avant de disparaître
dans la masse,
visqueuse,
glauque,
gluante,
lugubre…
…
Il fallait
une
consigne. Indiquer
un
lieu où ils pourraient causer à tête reposée.
La jeune femme insistant,
il soupira,
se mordit les
lèvres et balbutia:
«Rendez-vous au Tram 83».
unter uns: ich kann kaum französisch. trotzdem lese ich das französische original und versuche zu entziffern, was da gesagt wird.
ich lese einfach drüber weg, viel zu schnell und verstehe ein paar einzelne bruchstücke und und tue dann so als bräuchte ich nicht mehr:
La même légende, comme xx xxxx ne xxxxxxxx pas, prétendait que la construction xx xxxxxx xx xxx avait fait de xxxxxxx morts xxxxxxx aux maladies tropicales, aux xxxxxx techniques, aux xxxxxxxx conditions de travail xxxxxxx par l’administration coloniale, bref, on connaît le scénario.
manchmal verstehe ich alles, ohne zu wissen was da steht:
Nuit de la débauche, nuit de la beuverie, nuit de la mendicité, nuit de l’éjaculation précoce, nuit de la syphilis et autres maladies sexuellement transmissibles, nuit de la prostitution, nuit de la débrouille, nuit de la danse et de la danse, nuit qui engendre des choses qui n’existent qu’entre un excès de bière et l’intention de vider sa poche qui exhale les minerais de sang, cette bouse juchée au rang des matières premières, au commencement était la pierre…
© Bluegrass Dive Club
ständig ändert sich die zeit
beim lesen bin ich mir sicher, wir befinden uns in den fünfziger/sechziger jahren, kurz vor dem vermeintlichen ende des kolonialistischen zeitalters. schon nach dem ersten absatz bin ich mir sicher, ich bin nicht unter seemännern aber irgendwie in küstennähe, bei jean genet, ich bin kurz vor dem wechel zur postkolonialisierung, als die öffentliche haltung endlich umschlug und ein bewusstsein der ungerechtigkeit einsetzte. ich bin bei einer erschöpften, missbrauchten, ausgebeuteten natur, die nichts mehr hergibt und immer noch beackert wird. linien laufen ineinander zwischen beat poesie, ausbeutung, klimawandel und kolonialisierung und mir gefällt die darstellung von frauen nicht, das wollte ich gesagt haben, aber ich denke mir, das muss so sein, du hast sicher wieder etwas übersehen, da, schau einmal genau hin, du schaust in diese welt hinein nur durch einen menschen, der selbst überfordert ist, von zeit, raum und ort und seine überforderung versuchst du wieder runterzubrechen auf deine fiktion einer geregelten wahrnehmung, die du immer nur abends, zur post-bürgerlichen stunde im blauen flimmern am rechner zustandebringst, also irgendwie, glaube ich, dass ich mich wieder geirrt habe, wie ich immer vermute, beim lesen, dass ich mich irgendwo geirrt habe, irgendetwas überlesen habe, ich habe wieder nicht aufgepasst und irgendwas vergessen, wieder nicht genau genug gelesen, das wurde mir immer schon erklärt, dass ich recht schlampig lese, hieß es immer, ich lese schlampig, ich wusste nie so genau was das heißt, als kind hatte ich dann immer das gefühl, oder dann später auch immer noch als jugendlicher, wenn sich immer alles ändert, ständig ändert sich die zeit, auf jeden fall hatte ich immer das gefühl, dass ich schmutzig sei, weil ich schlampig lese, dass meine hände schlampig umblättern, ich habe irgendwie versucht zu verstehen, was schlampig lesen heißen kann, irgendwer wird mir gleich sagen, dass ich etwas übersehen habe, aber da steht doch, oder hier heißt es doch, und ich werde dann nachgegeben haben und werde die verknüpfung trotzdem gemacht haben.
ständig ändert sich der ort
eine klippe, die tram 83 ist nicht größer als ein tramwagen der wiener linien, aber darin spielen eine große jazz band, es tanzen mindestens hundert menschen, die bar alleine sprengt schon den tramwagen, es ist außerdem ein diner, aber ein fake, einer, der in frankreich steht, der an einer nebligen klippe mitten in zentralafrika steht, kein meer weit und breit aber eine klippe und viel nebel und ein wald und sonst ist da eigentlich nicht viel. es ist dunkel und ich bin mir sicher, dass ich wieder irgendwas vergessen habe, dass ich wieder irgendwas übersehen habe, ich gehe noch einmal zurück, nous marchions dans les ténèbres de l’histoire, sicher habe ich wieder irgendwas übersehen, irgendeinen hinweis, les jazzmen se retirèrent sur un morceau de Gillespie, A Night in Tunisia, irgendwo, ich gehe über die bar nochmal, höre nochmal genau hin, lasse mir noch einmal alles erzählen, ici, le Nouveau-Mexique, chacun pour soi, la merde pour tous, ich mache die tür der tram 83 auf und zu, quietscht sie? ist es eine einflügelige tür, zu einem wohnwagen, sieht jetzt von hier aus alles aus wie in einem david lynch film, blue velvet, hat die tür ein bulls eye? ist es eine metallene tür? ich sehe immer ein bulls eye, wenn ich tram 83 sage, dann nocheinmal das verbotsschild, nocheinmal die gespräche, die prostituierten im rentenalter, die pfingstkirchenpfarrer, die nachtklubärzte, die liebhaber von pornofilmen, un couple authentique, postcolonial, s’assit à côté d’eux, nocheinmal die hühnerhofphiliosophen, die organhändler, die soldaten-witwen, die siamesischen zwillinge schaue ich mir zweimal an, die wegelagerer, die aufständischen dissidenten, die altwarenhändler, die erzschürfer, die druiden oder schamanen, noch einmal die soldaten ohne gelegenheit zu vergewaltigen, noch einmal die gewohnheitstrinker und die minenarbeiter, die milizionäre und die marabus, noch einmal lasse ich sie zu wort kommen, weil ich mich verlaufen habe, ich dachte wir seien ganz woanders, in einer ganz anderen zeit, Monsieur est Belge?
© thomas köck