ALLE UNTERWEGS INS NIRGENDWO*
//*Zitat aus TRAM 83
Zum Romanauszug TRAM 83 von Fiston Mwanza Mujila
von Sandra Gugic
Das TRAM 83 ist eine Bar und das schwarze Herz einer Stadt, ein Sehnsuchtsort der Verlierer und Glücklosen, ein Ort der Unmöglichkeiten. Die ungeschriebene Regel des TRAM 83 könnte sein:
Nothing is true, everything is permitted.
Everything is true, nothing is permitted.
Der Autor lässt seinen Blick über die Gestalten im Inneren des TRAM 83 schweifen, über Touristen, Prostituierte, Söldner, Diebe, Agenten, Kindersoldaten, Halbwelt und „normale Welt“ treffen aufeinander. In einer nicht endend wollenden Aufzählung rollt der Autor Daseinssplitter und Fragmente wüster Lebensgeschichten vor uns aus. Und hier sind wir jetzt, mitten im Geschehen mit Lucien und Requiem.
TRAM 83 ist ein Text voller Wut und Dringlichkeit, in rhythmisch-musikalischer Sprache zieht er uns mit sich, ein Bewusstseinsstrom, der unter dem Text fließt, ähnlich dem eines William S. Burroughs, das TRAM 83 könnte ebenso in Burroughs Interzone liegen.
In the City Market is the Meet Café. Followers of obsolete, unthinkable trades doodling in Etruscan, addicts of drugs not yet synthesized, pushers of souped-up harmine, junk reduced to pure habit offering precarious vegetable serenity, liquids to induce Latah, Tithonian longevity serums, black marketeers of World War III, excusers of telepathic sensitivity, osteopaths of the spirit, investigators of infractions denounced by bland paranoid chess players, servers of fragmentary warrants taken down in hebephrenic shorthand charging unspeakable mutilations of the spirit, bureaucrats of spectral departments, officials of unconstituted police states, a Lesbian dwarf who has perfected operation Bang-utot, the lung erection that strangles a sleeping enemy, sellers of orgone tanks and relaxing machines, brokers of exquisite dreams and memories tested on the sensitized cells of junk sickness and bartered for raw materials of the will, doctors skilled in the treatment of diseases dormant in the black dust of ruined cities, gathering virulence in the white blood of eyeless worms feeling slowly to the surface and the human host, maladies of the ocean floor and the stratosphere, maladies of the laboratory and atomic war… A place where the unknown past and the emergent future meet in a vibrating soundless hum… Larval entities waiting for a Live One…”
// William S. Burroughs, Naked Lunch
Die Bilder aus Fiston Mwanza Mujilas Erzählkosmos würden sich auch in jene, die David Cronenberg in seiner Naked Lunch-Verfilmung von 1991 findet, gut einfügen.
LINKS >
New Writing Machine > http://www.youtube.com/watch?v=sRzpG59MKWo
The talking asshole > http://www.youtube.com/watch?v=uiWIjWh3MNA
ALLE UNTERWEGS INS NIRGENDWO Sandra Gugic zu Tram 83 III
ALLE UNTERWEGS INS NIRGENDWO*
//*Zitat aus TRAM 83
Zum Romanauszug TRAM 83 von Fiston Mwanza Mujila
von Sandra Gugic
Die Lektüre von TRAM 83 lässt mich auch an Elfriede Jelinek denken, eine Meisterin des Sprachturmbaus, an ihre Theatertexte Bambiland und Babel. Auch Fiston Mwanza Mujilas Text ist im besten Sinne pathetisch, ebenso trivial und schamlos wie poetisch, die Motive sind genau gesetzt, Sprachflächen durchsetzen die vordergründige Handlung und die Dialoge zwischen Lucien und Requiem, die einzelnen Komponenten sind die Fäden, die den Sprachteppich bilden.
Wir sind Verlierer, die Götter haben uns verlassen, die Kriegsheimkehrer sind heimatlos und die Daheimgebliebenen orientierungslos.
// Christoph Schlingensief über Jelineks Bambiland
Der Blick des Autors streift die Frauen im TRAM 83, die sich Lucien und Requiem anbieten, die Küken und Mutter-Mädchen, die Schönheiten wie auch die Alten und Hässlichen die sich allesamt ihren „Fettsteiß“ anzüchten, sich dabei mit Pillen und Schweinefutter behelfen, um einen grotesk aufgeblasenen brasilianischen Po* zu bekommen.
*Apropos, wer hierzu ein grotesk sexistisches Musikvideo sehen will, das mir in diesem Zusammenhang spontan einfällt, bitteschön, am besten Augen zu und durch // Nicki Minaj, Anaconda, 2014 > http://vimeo.com/103875158
Das TRAM 83 ist eine ebenso groteske Comicwelt, die ein Rauschen erzeugt, ein Rauschen aus Menschenlärm und Jazz. In einer Passage heißt es:
Jazz ist ein Zeichen von Noblesse, die Musik der Reichen und Neureichen, der Schöpfer dieser schönen kaputten Welt. (…) Vor allen Dingen ist Jazz ein abschüssiges Terrain, eine Felswand, die nur erklimmen kann, wer seine Ursprünge, seine Geschichte, seine wichtigsten Vertreter kennt … Jazz ist längst nicht mehr Sache der Neger (…) Jazz ist der Hebel, dessen sich der ganze Abschaum des TRAM 83 bedient, um die Gesellschaftsschicht zu wechseln wie die U-Bahn.
Lucien, der Schriftsteller, zieht immer wieder sein Notizbuch aus der Tasche um diese Welt zu dokumentieren, eine Spiegelfigur des Erzählers oder sogar des Autors. Lucien schreibt an einer Stelle:
Dies ist keine Bar. Wo werden sie sich abreagieren, wenn es keine Frauen mehr zur Erfüllung ihrer Fantasien gibt? (…)
Und Lucien hat Recht, das TRAM 83 ist keine gewöhnliche Bar, es ist ein Polyptychon, der an Bilder wie den Garten der Lüste von Hieronymus Bosch erinnert. Trotz der starken Dynamik herrscht eine Verfallsstimmung, eine Endzeitstimmung vor.
Ebenso wie man sich in der Betrachtung den einzelnen Motive und Details des Garten der Lüste verlieren kann, ist TRAM 83 vielschichtig und sogar unterhaltsam, was – wie Umberto Eco in seiner Nachschrift zum „Namen der Rose“ schreibt – nicht bedeutet, dass ein Text uns, den Leser, besänftigen oder in angenehme und versöhnliche Bilder hüllen muss, sondern er darf uns wachrütteln: mit Alpträumen und Obsessionen.
Städte herrschen über die Erde. Von wenigen Metropolen aus wird die Welt regiert und das Schicksal der Menschheit entschieden. Sie sind Hoffnung und Zuflucht, Mittelpunkt des Lebens und zugleich der Versuchung und Gefahr.
// Überall ist Babylon, Wolf Schneider