Originaltext
Ross Sutherland: Experiment to Determine the Existence of Love

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Experiment, um die Existenz von Liebe zu ermitteln scheint mir eine ähnlich gelagerte Attacke auf die Kollegen von der konzeptionistischen Zunft zu reiten, wie dies vor ein paar Jahren, ich glaube 2010, ein Gedicht von Andre Rudolph mit dem Gedicht Confessional Poetry tat. Der „ästhetizistische Konsens meiner [Andre Rudolphs, Anm. KA] Generation“ wurde darin angeklagt. Der Sache nach ähnlich harsch, aber mit weniger offenem Visier macht sich Ross Sutherland hier über universitäre Schreibübungen lustig; er selbst lehrt Kreatives Schreiben, weiß also, worüber er spricht. Es ist die Haltung, die seit dem Fin de Siècle bis heute nicht erledigt ist: Leben und Biographie als Input von Kunst zu verwursten; entweder im Namen der Realness/Authentizität/“Realpoesie“ oder der Kunstreligion. Eine Figur der Weltliteratur setzt diesem Kokolores ein würdiges Denkmal: Der ästhetizistische Literat Trigorin aus Tschechows Drama Die Möwe brauchte für einen seiner Romane einen Seitensprung, und verführte darum die Tochter seiner Gespielin. – Die Sprechinstanz in Sutherlands Experiment (die Frage ob es ein alter ego ist, erscheint mir biographistisch, also vordergründig) geht dabei vorderhand systematisch vor, es werden, so geben es die Zwischenüberschriften an, die Regeln der Durchführung und Disputation eingehalten, so wie sie eine akademische Qualifikationsarbeit. Wie wenig abwegig diese Satire auf die Verschulung von kreativen Studiengänge an Universitäten ist, das zeigt ein kritischer Essay von Eric Bennett zum traditionsreichen neokonservativen Iowa Writing Program, dessen Übersetzung ins Deutsche unter dem Titel „Wie Iowa die Literatur plattgemacht hat“ im Juli-Heft des Merkur (Dt. Zeitschrift für europäisches Denken, S. 573-86) erschien. Auch die Bewältigungs- oder Therapievariante von Texten kann nicht als Kunst durchgehen. Die lakonische Aufzählung, die wir unter „2. Apparat“ finden, macht die Sache gerade noch erträglich, eben indem sie nicht larmoyant-privatistisch ausbuchstabiert wird. Das wäre eher etwas fürs geheime Tagebuch; wer die Zeit hat …

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Auf die Gefahr hin, dass ich Ross Sutherland fürchterliches Unrecht tue: Die Vergleiche mit dem Wahrscheinlichkeitstheoretiker John Venn und Formulierungen wie „das Herz mit Spaghetticode schreiben“ scheinen mir absichtlich gezwungen, wichtigtuerisch bis nerdig-preziös. Es soll ganz offiziell und unumstößlich, auch unumstößlich experimentell sein. Mag ein Seitenhieb auf positivistische Literaturwissenschaft, die das Fach mit quasi naturwissenschaftlichem Instrumentarium im Wettbewerb um Geldmittel aufmotzen will, so steckt doch sicher auch ein Vorwurf an als gezwungen empfundene literarische Verfahren darin, die das Wörtchen ´experimentell´ wie einen Adelstitel führen. Der als experimentell (das Pendant dazu im angelsächsischen Sprachraum scheint ´konzeptionistisch´) verschriene und dafür oft indolent angefeindete Berliner Lyriker Ulf Stolterfoht hat die Klischees und Scheinargumente bereits 2008 in Noch einmal: Über Avantgarde und experimentelle Lyrik aufgelistet und seinerseits zwei Definitionen des Lemmas „experimentelle Lyrik“ angeboten:

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„Wenn […] von »experimenteller Lyrik« die Rede ist, dann sind damit Texte gemeint, deren Aussage (falls vorhanden) nicht schon vor Beginn des Schreibprozesses feststeht, die also nicht ein vorgegebenes Bedeutungsziel ansteuern oder dieses womöglich entsprechend illustrieren. Freiheit ist immer auch Absichtsfreiheit. So wäre selbst ein Gedicht, das uns vermitteln möchte, dass man nur auf experimentellem Wege: regel- oder klanggeleitet, permutativ, kombinatorisch usw. zu einem haltbaren Ergebnis kommen kann, in diesem strengeren Sinn eben kein experimenteller Text. »Experimentell« soll eine Haltung (Priessnitz) beschreiben, nicht ein Bündel von Verfahren oder einen prall gefüllten Werkzeugkoffer. »Avantgarde« soll heißen: Die Gruppe von Leuten, die solche Texte schreibt.“ (in: BELLA triste, Heft 17, S. 189-198, hier: S. 193)

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Es geht auch Sutherland darum, diesen Unterschied von Poesie und versifizierter Rhetorik zu zeigen. Experiment oder Protokoll eines Ablaufs, eines brav befolgten Reglements, das um des akademischen Ansehens willen als „Experiment“ bezeichnet wird. Im Stolterfoht’schen Sinne wäre Ross Sutherland als Avantgardist zu bezeichnen. Ob ihm diese Bezeichnung wichtig ist, darf bezweifelt werden; der Dialektik des Experiments ist er sich in jedem Fall bewusst: „Zweifelsohne funktioniert das Experiment in der Theorie.“ Überhaupt scheint sich ein erstaunliches Reservoir an dialektischer Kenntnis auf der Insel gehalten zu haben. Sutherland ist keine Ausnahmeerscheinung; ich nehme nur das nächstgelegene Beispiel eines Poeten, der, wenn auch mit eindeutig neomarxistischem Instrumentarium arbeitend, ebenfalls in ausgreifenden Zusammenhängen denkt und dementsprechend frappierend schreibt: Sean Bonney (http://abandonedbuildings.blogspot.de/) Sutherlands Ton ist freilich populärer als der Bonneys, und womöglich auf ein größeres, nicht zwingend poesieaffines Publikum berechnet, denn die Wurzeln dieser Art Gedichte zu schreiben im Bereich Kabarett oder Lesebühne (http://www.aisle16.co.uk/) sind ebenso unverkennbar. Aristoteles, oder irgendein anderer Barkeeper, sagte: Die Mischung machts. 

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