Ein Kommentar zu Fiston Mwanzas Text Tram 83 #1
Hier, zu Beginn von Tram 83 entwirft Mwanza zunächst den Ort des Geschehens. Ein mysteriöser Ort – einerseits liegt er fernab von allem (auch nur entfernt) Bekannten und Vertrauten, anderseits scheinen gerade dort die Realitäten verschiedenster Menschen und all das entfernt Bekannte und Vertraute zusammenzulaufen: Marxisten, (Sex-)Touristen, Mienenarbeiter, Studenten, Verkäufer, Jazzmusiker und noch Unzählige mehr.
Für einen „Unort“ ist sowieso unglaublich viel los im sogenannten Tram, einem Stadtviertel, das scheinbar nur aus einer gigantischen Bar besteht und einem Bahnhof, der – wie immer wieder betont wird – nur eine unfertige und von Granateinschlägen (!) in Mitleidenschaft gezogene Metallkonstruktion ist. Aber vor allem ist es, wie Mwanza schreibt „der einzige Ort auf der Welt, wo man ganz ungehemmt fluchen, klauen, sich erhängen, entleeren und verknallen konnte, ohne dass jemand hinsah“.
Es ist ein seltsam gespaltenes Gefühl, das sich beim Lesen über den Tram einstellt. Einerseits herrscht dort ein offensichtlich menschenfeindliches, böses Getummel, in dem niemand niemanden beachtet, man zwielichtigen Machenschaften nachgeht und jeder versucht, irgendwie zu überleben.
Doch je länger man liest, desto mehr mischt sich eine merkwürdige Vertrautheit unter das anfängliche Abgestoßen-Sein. Bei aller Verkommenheit gibt es dort Gemeinsamkeit und Freiheit, und zwar nicht angesichts des Abgrundes sondern schon längst auf seinem tiefsten und dunkelsten Boden. Denn auf der ganzen Welt kann man nur im Tram tun, was sonst als zu unmoralisch, gefährlich oder schlicht unfein gilt und niemand wird hinsehen. Es gibt Komplizenschaft, das Böse schadet sich nicht gegenseitig sondern lieber anderen und gerade durch den Überlebenskampf eines Jeden ohne Rücksicht oder Skrupel entsteht hier eine bizarre soziale Gemeinschaft der durch und durch Asozialen.
Es ist dieses kleine Paradox, das gespannt sein lässt auf die weiteren Ereignisse im Tram 83…
von Martina Koesling