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Nude III von Ross Sutherland

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Kurze, dumme Frage: Was seht ihr auf diesem Bild? Lady Liberty, schon klar. Nächste dumme Frage: Was seht ihr dahinter? Die Golden Gate Bridge. Berechtigte, letzte Frage: Hä?

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Dieses Bild wurde nicht gephotoshoppt, es wurde weder in New York noch in San Francisco aufgenommen, sondern in Odaiba, einer künstlichen Insel in der Bucht von Tokyo. Odaiba ist ein beliebtes Ausflugsziel – am Strand reihen sich Restaurants und Malls aneinander. Der Weg dorthin kann mit einer Monorail zurückgelegt werden, ein beeindruckendes Erlebnis. Die führerlose Bahn fährt durch fast menschenleere Gebiete, in denen riesige Gebäude zu sehen sind. In der Ferne ist sogar der Tokyo Tower zu erkennen, die Ketchup-und-Mayo-Variante des Eiffelturms.

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Es ist bizarr, sich durch diese Kulisse zu bewegen, all diese »identical buildings« zu sehen und das Vertraute in der Fremde wiederzuerkennen. So wie »The School of Broken Necks in Toronto« und »The Yahtzee Institute in Bethlehem« gleich aussehen, so tun es die New Yorker und die Tokyoter Lady Liberty, die Golden Gate Bridge in Frisco und die Rainbow Bridge in der Bucht der japanischen Millionenstadt, der Pariser Eiffelturm und sein fernöstlicher, ein paar Meter größerer Kompagnon.

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Die Architektur, die uns umgibt, wirkt sich unmittelbar auf unsere Weltwahrnehmung aus. Indem wir den Unterschied zwischen einem Spandauer Schrebergartenhäuschen, einer russischen Datscha und einem skandinavischen Wochenendhaus erkennen, identifizieren wir kulturelle Unterschiede. Und vielleicht kommt uns das Berliner Holzhäuschen ein bisschen einladender vor, weil es uns so vertraut ist.  Weil wir mit den Menschen darin eine Sprache und einen gemeinsamen kulturellen Background teilen.

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Ich habe mich nie so fremd und fehl am Platz gefühlt wie in Japan. Ich spreche kaum Japanisch, erst recht aber fiel es mir schwer, mit der japanischen Mentalität zurechtzukommen. Zudem sah ich mit meinen 1,96 Meter Körpergröße, meiner obszön großen Nase und meinen straßenköterblonden Haaren zwischen all den etwas kleineren, in Haar und Teint dunkleren Asiat_innen aus wie ein riesiger, bunter Hund. Es fiel mir schwer, mich zurechtzufinden. Nicht nur geografisch, sondern auch kulturell. Dass ich immer wieder auf vermeintlich Vertrautes – ob nun die Lady Liberty, »Kartoffel Brot«, Goethe oder ganz finstere Gestalten der deutschen Geschichte – stieß, machte die gesamte Erfahrung noch surrealer. Es schien mir darüber fast unmöglich, mit irgendwelchen Menschen eine Verbindung aufzubauen. Komisch eigentlich. Denn haben wir nicht zumindest das Eine gemeinsam: Sind wir nicht alle Menschen?

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Auch in den »identical buildings« von Ross Sutherlands Nude III leben Menschen. »[O]chre girlfriends«, die von Hockeyteams misshandelt werden. »Young minds«, die in Bibliotheken dahinsiechen. Und die_der »last member of an improv group«, die_der auf dem Nachhauseweg Iron Maiden hört. Iron Maiden habe ich in Japan auch gehört, sogar beim Karaoke dazu gesungen (es war viel, viel Schnaps im Spiel) und das letztlich sogar in einem Gedicht verarbeitet. In dem geht es vor allem darüber, wie wir andere Kulturen wahrnehmen. Mit welchen Vorurteilen, Missverständnissen wir uns dem Fremden nähern. Wie wir Vertrautes herbeiziehen, um uns das Unbekannte zu erklären. Wie falsch und anmaßend das sein kann.

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Auch in Nude III – noch sowas: sehen wir nackt nicht alle gleich aus? – geht es um vermeintlich Vertrautes und die Menschen dahinter. Keine der genannten Personen aus den »identical buildings« ist uns wirklich unverständlich, egal wie ockerfarben sie sein mögen. »[A] closed burger van« sieht ja auch über auf der Welt gleich aus. Oder?

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Vielleicht aber wäre es falsch, das anzunehmen. Vielleicht sollten wir vielmehr versuchen, das Besondere im Personal von Nude III auszumachen anstatt auf das Vertraute zu vertrauen. Vielleicht möchte uns das Gedicht ja sogar darauf hinweisen, dass wir – auch wenn wir alle dieselbe »hold music of the sky« hören und Tag für Tag durch ein instagrammiges »sepia of the streetlights« laufen, doch alle unterschiedlich sind. Egal, wo wir herkommen, welcher Kultur wir zugehören.

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Banal? Vielleicht. Aber ist nicht so vieles, was uns banal scheint, im Kern richtig und wichtig?

Von Kristoffer Cornils

5 Kommentare

  • Martina

    In Nude III lese ich eine Reflektion des so Vertrauten. Das Eigene, dem man angehört, ohne eigentlich gewählt zu haben und das man mehr oder weniger annimmt, ohne wirklich Einfluss darauf zu haben – wie z.B. dem Kollektiv einer Schule, einer Universität. Im Gedicht wird sie entsprechend als „ours“ bezeichnet, und direkt am Anfang zwischen Bethlehem und Toronto verortet. Es folgt eine Beschreibung des alltäglichsten Alltags an diesem Ort und obwohl vieles beim Lesen aufstößt – so etwa die fraglich behandelten Hockeyspieler-Freundinnen oder die in der Bücherei versauernden young minds – stellt sich am Ende doch eine entspannte Abendatmosphäre ein, in der man mit schlenkernden Armen gemeinsam durchs Sepialicht läuft, sich Gedanken macht über die geeignete Musik für den Heimweg und das Leben für ein paar Stunden auf hold stellt. Dass diese Vertrautheit aufkommt und sich so unmittelbar auf den Leser überträgt, obwohl niemandem eigentlich etwas Positives (eher im Gegenteili) wiederfährt und ein Imbisswagen dabei reptilienhirnmäßig alles im Griff hat – das ist das eigentlich Beunruhigende an Sutherlands Gedicht, das einen nachdenken lässt über sich diese sich durch das so Gewohnte einstellende Gefühl der Zugehörigkeit und des Zuhauses, das wohl ein jeder eher in Form eins dumpfen Gefühls kennt und normalerweise selten hinterfragt.

    • Kristoffer Cornils

      Ja. Ich glaube, da meinen wir – ungefähr – dasselbe und schauen nur von der jeweils anderen Seite ins Gedicht oder daraus hervor.

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