Literatur ist ein Kommentar zur Welt, indem sie Realitäten erzeugt. Literaturvermittlung ist der Schlüssel zu diesen Lebenswelten. In einer Gesellschaft im Wandel muss sie sich immer wieder hinterfragen, um lebendig zu bleiben. Die sprichwörtliche ‚Wasserglas-Lesung‘ mit dem Autor auf dem Podium und den Zuhörern im Publikum zieht räumliche Grenzen und setzt eine (Gesprächs-)Hierarchie voraus: Autor, Moderator, Publikum haben fest zugewiesene Rollen. Der Autor wird als Autorität zur Erklärung seines Textes herangezogen, seine Interpretationshoheit gilt zumeist als unstrittig. Der Lesungsbesucher bleibt dabei in der Regel passiver Zuhörer in einer räumlichen Frontalsituation. Konventionalisierte Abläufe und Rollen lassen das konkrete Geschehen der literarischen Lesung absehbar werden. Doch gerade produktive Störungen provozieren Momente persönlicher Auseinandersetzung, in denen Literatur zu wirken beginnt.

 

Wie kann eine solche lebendige Literaturvermittlung heute konkret aussehen? Welche Bilder können entstehen, die die ästhetische Faszination am Gegenstand Literatur vermitteln? Welche Potentiale in der öffentlichkeitswirksamen Außendarstellung von Literatur können dadurch erschlossen werden? Und wie kann in der Kulturmetropole Berlin eine solche lebendige Literaturvermittlung zugleich integrativ wirken, wenn sie auch junge Leser für die Literatur gewinnen und schon im Schüleralter als mündige Akteure in das vielfältige und internationale Kultur-Leben der Stadt integrieren will?

 

Das Projekt „¿comment! – Lesen ist Schreiben ist Lesen“ fragt französisch nach diesem „wie?“ und verlangt zugleich englisch nach dem „Kommentar!“ als einer Möglichkeit der Auseinandersetzung mit dem literarischen Text. In Deutschland noch unentdeckte zeitgenössische Autoren aus dem englischen und französischen Sprachraum werden auf Vorschlag jeweils eines Berliner Autors erstmals dem deutschen Publikum vorgestellt, indem ihre Prosa oder Lyrik lesend kommentiert und durch diese Kommentare vermittelt wird. Der professionelle deutschsprachige Leser – Übersetzer, Schauspieler, Literaturkritiker, Lektor, Wissenschaftler, Schriftsteller, Literaturzeitschriftenredakteur, Verleger – und die in Kleingruppen arbeitenden Schüler hinterlassen ihre Kommentare als zeichenhafte Äußerungen ihrer persönlichen Auseinandersetzung mit dem Text. Dies geschieht in Form sprachlicher, bei den Schülern je nach Bedarf und Neigung auch akustischer oder visueller/filmischer Kommentare, die auf der Projektwebsite in Form eines Blogs dokumentiert werden.

 

Die in den Text eingeschriebenen Interpretationen des Übersetzers, des lesenden Schauspielers o.a., die in vielen Lesungen bereits die Wahrnehmung des Publikums lenken, werden so als Fortschreibungen des Originaltexts explizit gemacht. Der Einbruch der vielstimmigen Leserkommentare relativiert die Interpretationshoheit des Autors, stellt sie möglicherweise sogar infrage. So sammeln sich Spuren im Text, die Wege zum Publikum bahnen. Mal analytische Erläuterung, mal provokanter Widerspruch, hier kreative Weiterschreibung, dort literaturkritische Anmerkung, bilden die Kommentare am Textrand diskursive Kreuzungen, Überholspuren und Sackgassen, die das Publikum einladen zu folgen oder seinerseits zu widersprechen.

 

Gleichberechtigt neben dem Autor und dem Originaltext sowie seinen verschiedenen Übersetzungen stehen – sowohl im virtuellen als auch im realen Raum während der vier Literatur- Ereignisse (November 2014) – die Kommentare der Leser, Profis wie Schüler. Abhängig von der Beschaffenheit des Originaltextes und der Kommentare werden bei den durch jeweils einen Berliner Autor kuratierten Literatur-Ereignissen insbesondere interdisziplinäre Herangehensweisen genutzt, die mit der räumlichen Situation experimentieren und mit visuellen und akustischen Mitteln arbeiten: Die Lesung als polyphones Lesekonzert, als Rauminstallation, als Performance o.a. – lebendige Literaturvermittlung manifestiert sich hier als ergebnisoffene Suche nach textadäquaten Darstellungs- und Kommunikationsformen, als im Sinn des Projekttitels deutlich formulierte Frage nach dem „comment?“.

 

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