ross sutherland infinite lives

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kurze Texte zu den Gedichten von Ross Sutherland.

Text 3, zu “Infinite Lives (Try, try, try again)”

Konstantin Ames schreibt hier. Kristoffer Cornils hier.

alle Texte von Stefan Mesch: [1. nude III] [2. Zangief] [3. try try try] [4. Branson] [5. Röntgen] [6. Experiment] [7. van Damme]

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erste Idee: Kinderperspektiven langweilen mich. weil Kinder wenig schaffen, wissen, planen, das meiste verpatzen – und ihre Geschichte oft passiv und beschränkt erleben. viele Autor*innen wollen eine “ist das nicht putzig, magisch, zauberhaft und drollig?”-Stimmung erzwingen. doch Kinderhelden gehen mir auf die Nerven: mein Kindsein war schleppend, wirkungslos und dumm, und wer über das Glück des Kindseins schreiben will und nur den immer gleichen abgegriffenen Kinder-Kitschkram findet (“Das Sofa war eine Insel! Der Garten ein Dschungel! Mein Bett eine kuschelige Höhle! Unser Sommer wollte niemals enden!”), verliert meinen Respekt: Texte sind, wie alles andere, in 9 von 10 Fällen Schrott. doch Kindertexte leider: in 98 von 100 Fällen. dünnes Eis, Ross Sutherland.

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zweite Idee: das ist mein dritter Ross-Sutherland-Text. und der erste, der so britisch (schottisch?) erzählt, dass ich mir direkt Google zu Hilfe hole:

“try try try again” stammt vom britischen Pädagogen William Hickson.

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sind “lounges” und “living rooms” das selbe?

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haben Yorkie Easter Eggs immer diese Bagger- und Baustellen-Verpackung? ist das ein Schoko-Osterei für Jungs?

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Dixons ist eine Elektronik- und Haushaltswaren-Kette: “Saturn” in Britisch? aber es gibt keine Barmänner bei Dixons, oder? keinen Werbespot oder Dixons-Film (und dessen Outtakes), in dem eine Bar vorkommt?

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dritte Idee: viele kleine Effekte, Akzente im Text gefallen mir: wer steuert das leichte Fahrzeug (oder: Raumschiff?) über den Kaminsims? nicht “me”, nicht “my hand”, sondern “my mind”, denn diese Lenkmanöver werden im (Kinder-)Kopf geboren. der Erzähler weiß und betont das: Space Battles im Wohnzimmer sind Kopfsache!

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das selbe Kind, die selbe Kinderfantasie lässt “a billion ships” verbrennen und macht einem Yorkie-Ei den selben kurzen Prozess wie die “Star Wars”-Rebellen dem Todesstern. mich überzeugt auch die Fantasie, dass das Familienauto vom Weg abkommt, das Kind auf die Straße geschleudert wird und dann, Kopf voran, über eine Kreuzung rutscht / schlittert wie ein feuchtes Bier über den Tresen: für Kinder ist der Tod denkbarer, simpler, wenig tabuisiert. und wer alt genug für “Star Wars” ist, hat genug Autounfälle im Film gesehen. leichtfertig übers schnelle Sterben reden? machen Kinder oft. passt gut! gefällt mir sehr.

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zu dieser Leseweise passt auch der Titel: wer “unendlich viele Leben” hat in einem Videospiel, kann rumspinnen, alles ausprobieren, sich Zeit lassen. toben. Quatsch machen. wie ein Kind! am schönsten / besten aber gefällt mir eine Kleinigkeit: die Eltern spielen im Urlaub zusammen ein Spiel, in dem man Steine aneinanderfügen muss und hoffen, dass sie passen. eine schöne Metapher für: “Meine Eltern lieben sich, und haben versucht, zusammen zu passen”…?

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vierte Idee: müsste ich als Lektor mit “Infinite Lives” arbeiten, hätte ich eine Menge kleiner sprachlicher Kritikpunkte an Ross Sutherland: das lyrische Ich spielt nicht im eigenen Wohnzimmer, sondern bei irgend einem “Du”, das eine Großmutter hat. doch beide Figuren, Großmutter und Du, spielen sofort keine weitere Rolle. ich verstehe nicht, was mit dem Pkw-Armaturenbrett passiert: bauen es die Eltern beim Domino-Spielen in Frankreich immer wieder nach / um (“reconstructing” = umbauen), oder baut das Ich als Kind im Kopf immer neue Spielwelten auf diesem Armaturenbrett (“reconstructing” = in der Vorstellung neu aufbauen), bevor es aus dem Auto geschleudert wird? Kinder sitzen im Auto meist hinten: das Armaturenbrett ist ihrem Blickfeld recht fern.

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auch, was die Barkeeper tun, kann ich mir nicht erklären: Das Ich glaubt, sie seien “Simulanten” / “Fakers”, während (?) es zusieht, wie sie ein Bier “die Theke entlang schubsen”? wann sehen Kinder Wirte? und dass diese Wirte doch keine Fakers sind, wird dem Erzähler klar, als er die gelöschten und verpfuschten Szenen durchkuckt, die Outtakes? wo sieht er diese Szenen? wer zeigt sie ihm? was ist dort zu sehen: wie Barkeeper daran scheitern, ein Bier über den Tresen zu schubsen? das Bier herunterfällt? das “Wieder und wieder durchprobieren, bis es klappt”-Motiv dieser Strophe passt zum Titel. doch ich weiß nicht, welche echte, konkrete Bar-Szene im Leben eines Kindes ich mir hier vorstellen soll, und welche “Outtakes” denkbar wären. gefällt mir nicht.

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fünfte Idee: zum ersten Mal will ich auch Übersetzer Konstantin Ames an vielen Stellen widersprechen: “Infinite Lives” wären in der Videospiel-Logik besser “unendlich / ewig VIELE” Leben, nicht (ein) “ewiges Leben”. “um eine Lounge dreidimensional zu erfassen” ist mir zu technisch und schwammig: vielleicht besser “um alle drei Dimensionen eines Wohnzimmer zu verstehen”? statt “Nebeln” würde ich “Sternennebel” übersetzen und besser “Kaminsims” statt “-verkleidung”. [Edit: Konstantin Ames erinnert mich, dass er “Ewige Leben” übersetzt hat, im Singular: Das passt also. Ich habe schlampig gelesen!]

am wichtigsten: das Kind stürzt aus dem Auto und rutscht über die Kreuzung. da ist mir “segeln” als Verb zu sanft: der Kopf soll bitte “schlittern”, “klatschen”, “schäumen”. Hirnmasse! Blut! so nass wie Bierglas oder -flasche über den Tresen! das volle Kinderfantasie-Horrorprogramm.

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gerne gelesen? sehr gerne, ja. nur kommt es mir unfertig vor, schlecht überlegt, an vielen Stellen fadenscheinig. Mr. Sutherland, was haben Sie sich dabei gedacht? ich glaube nicht, dass Ross Sutherland hier die besten Worte fand, um zu zeigen, was er zeigen wollte.

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schlechtestes Wort: die “glittering skies” über Frankreich langweilen mich; und ich google seit zehn Minuten, was die “last words of the Death Star” gewesen sein sollen (“Standy, standby”? Oder Großmuff Tarkins “You may fire when ready”?). der sympathisch-flapsig-abrupte Abschluss, “OK I finally get it” gefällt mir sehr… nur kapiere ich selbst den Heureka-Moment des Gedichts (oder mindestens: die Outtake-Bartender-Bier-Theken-Situation) kein Bisschen. und deshalb ärgert mich das “alles klar!”, “OK, endlich hab ichs raus!” am Ende eines Textes, den ich nicht raus habe. und der vielleicht einfach zu schlecht / unklar geschrieben ist, als dass ein Leser es raus kriegen könnte…?

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später / danach:

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ich weiß nicht, warum man als Science-Fiction-begeistertes Kind ausgerechnet bei der Fahrt Richtung Elektromarkt (!) Todesfantasien hat.

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ich freue mich, dass “try, try, try again” bei William Hickson vermutlich eher stoisch und ermahnend gemeint war: “Übung macht den Meister”, “Immer wieder von vorne anfangen!”, “Arbeit, Arbeit, Arbeit”… doch in der Videospiel-Welt ganz risikoarm, leichtfertig benutzt wird, als Versprechen: “Einfach von vorne! Keine Konsequenzen! Nichts kann schief gehen!”

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Konstantin Ames fragt nach den Traumata und ECHTEN Unfällen, die eine Kindheit enden lassen, und kommentiert: “Eine durchaus mögliche Lesart ist die einer herbeigewünschten Katastrophe, die dann tatsächlich eingetreten ist; ein schrecklicher Autounfall, die für die Sprechinstanz beinahe tödlich endete, auch das abrupte Ende eines Kindheit; ein Trauma, dass auch der Suff nicht beheben konnte.”

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Kristoffer Cornils fragt ähnlich: “Irgendwo lauert immer »some great crash yet to come«, vielleicht wird er sogar herbeigesehnt. Um mal auszuprobieren, ob es wirklich Infinite Lives, unendlich Leben, in diesem einen gibt. Kurz speichern, was riskieren, dabei draufgehen, resetten und entspannt von vorn anfangen. Easy, oder?”

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Ross Sutherland veranstaltete 2009 einen “upbeat” Comedy- und Literaturabend namens “Infinite Lives”: “Last year, ESA (the Entertainment Software Agency) revealed that the average age of the most frequent game player is 33 years old. The children who began buying video games for their Atari 2600 in 1982 are still gripped 25 years later, somehow incapable of putting down the game controller and doing anything constructive, like putting up a shelf. No longer the preserve of childhood, video games have become a global phenomenon rippling though popular culture, influencing film, music, art, and even philosophy. Realising they are the same age as Pacman, three authors come together to produce an evening of entertainment dedicated to the secret language of computer games.”

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Protest gegen Produkte wie das “It’s not for Girls”-Yorkie-Egg sortiert sich u.a. unter dem Twitter-Hashtag #ichkaufdasnicht

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das schönste Lampenschirm-Großmutter-Wohnzimmer-Kaminsims-Foto aus Großbritannien, das ich kenne, ist hier.

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mein britischer Lieblings-Kindheits-Kitschsong ist “The Summerhouse” von The Divine Comedy.

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gelungene Kinderfiguren und -perspektiven? z.B. in Tove Janssons “Sommerbuch”, Ágota Kristófs “Das große Heft”, Carson McCullers’ “Frankie” und Harper Lees “Wer die Nachtigall stört”

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weiter mit: Ross Sutherlands »Richard Branson«

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Stefan Mesch, geboren 1983, schreibt für ZEIT Online und den Berliner Tagesspiegel. Er studierte Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus in Hildesheim, war Herausgeber von BELLA triste und Mitveranstalter des Literaturfestivals PROSANOVA und arbeitet an seinem ersten Roman, “Zimmer voller Freunde”. Als Liveblogger begleitete er u.a. das lit.futur-Festival 2013 und den Berliner Open Mike 2012. Buchtipps, Essays, Interviews und Texte auch auf seinem Blog… und erschreckend oft bei Facebook (Freund werden?).

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