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kurze Texte zu den Gedichten von Ross Sutherland.
Text 4, zu “Richard Branson”
Konstantin Ames schreibt hier. Kristoffer Cornils hier.
alle Texte von Stefan Mesch: [1. nude III] [2. Zangief] [3. try try try] [4. Branson] [5. Röntgen] [6. Experiment] [7. van Damme]
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erste Idee: ich schrieb nie eigene Gedichte. keine Lyrik aus 13 Jahren Unterricht hat mich erreicht / begeistert / überzeugt. ich kaufe (und verschenke) 200 Bücher jedes Jahr, doch habe noch nie einen einzigen Gedichtband bezahlt (halt: doch. aber kaum gelesen), ich habe keine Lieblings-Lyriker*innen und selbst Menschen, deren Lyrik ich oft mag (z.B. Monika Rinck, Andre Rudolph, aktuell besonders Malte Abraham) haben viel mehr Texte, die mich kalt lassen als solche, die mich begeistern. ich liebe Romane. Comics. Serien. viele Filme. aber Lyrik? schwyrik.
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2007 habe ich für BELLA triste über 200 Seiten Texte-über-Lyrik lektoriert, und dann ein Jahr lang immer neue poetologische Antworten gesucht, gesammelt und herausgegeben: wer Gedichte schreibt, wählt jedes Wort sehr überlegt. und deshalb können Lyriker*innen oft um Welten präziser, klüger über ihre Ansprüche, Sprache und Arbeit-mit-Sprache sprechen als alle anderen Künstler*innen: als Leser, als Journalist, als Literaturkritiker und Autor lerne ich SO viel, wenn Menschen über Lyrik sprechen. das lohnt sich jedes Mal!
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zweite Idee: “Richard Branson” macht mir Mühe. setzt mich unter Druck. mehr als alle anderen Ross-Sutherland-Gedichte bisher:
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ich kann (das wäre mir am liebsten) 18 kurze Gedichtzeilen lesen und bloggen, was diese Zeilen mit mir machen: was hängen bleibt. stört. reizt. gefällt. ins Auge sticht. oder mir misslungen scheint. es gibt ein Ich und ein “my love”, “cold hungover days” in Cambridge, eine weiße Sonne, unsympathische (?) Coworker und sieben Shreks, die in der Patsche hängen und weg laufen. das Ich bringt es nicht übers Herz, die Wahrheit zu sagen, das Du rückt (mütterlich? klammernd? herablassend?) die Krawatte zurecht, “ziehst sie fest und ich werde etwas älter”, und alles wirkt zu spät, verkniffen, vergeblich, verheimlicht und verpfuscht: “du denkst, dass du nur lange genug auf die Nudeln starren musst, um auf die Kombination des Safes zu kommen”.
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um den resignierten, traurigen Zweikampf dieses Paares besser zu verstehen, hilft mir ein Blick auf einzelne Wendungen: “trapped in the era”, “it’s impossible”, “[the money] will end up spent”, “I don’t have the heart”, “I am small and glassy”. 18 Zeilen Text, die fünf solcher “das geht nicht gut aus. alle sind müde!”-Formulierungen enthalten. keine Frage: die Worte stehen da bewusst. absichtlich. das sind Effekte, an denen Autor*innen lange feilen: beim ersten Lesen ahne, spüre, fühle ich eine erste Stimmung. das Gedicht ist “traurig, irgendwie” – reime ich mir zusammen.
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aber gehe ich wirklich noch mal kritisch, gründlicher durch alle Sätze,fällt auf, wie viel Mühe sich Lyrik mit solchen Sprach-Signalen gibt, um um Atmosphären, Stimmungen zu bauen: Ross Sutherlands 18 kurze Zeilen sind “irgendwie traurig”? das ist, als stünde ich einer Wohnung und denke “schick!” um dann zu merken: da stehen ja auch fünf Pianos. Statuen. Vasen voller Blumen! der Innenarchitekt hat in JEDE Ecke irgendwas gestellt, das signalisieren soll: “Oha. Edel!” so ähnlich wie die Frau, die 1990 im “Beverly Hills, 90210”-Pilotfilm durchs Bild läuft: vor der Armani-Boutique. im teuren Kostüm. mit Shopping Bags. und (Kalifornien!) einem Surfboard.
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dritte Idee: die Codes für Stimmung und Gefühle, die Ross Sutherland hier setzt, kann ich (und jeder sonst) problemlos knacken. doch will ich “Richard Branson” tiefer verstehen, brauche ich schon wieder Google: ich bin sehr froh, dass Kuratorin Simone Kornappel mir etwas Arbeit abnimmt und erklärende Links in den Text streut. für eine gute Stunde surfe ich hin und her, lese ihre Texte, lerne dazu und puzzle mir folgende komplizierte-charmante Cambridge-Anekdote zusammen (ohne zu wissen, ob das noch irgendwas mit Ross Sutherlands Gedicht zu tun hat).
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“okay, wait: so THIS lady“, schreibe ich auf Facebook, “made some Pulsar discovery in 1968 that got her colleagues a Nobel Prize …and led to THIS image… that ‘appeared in the Cambridge Encyclopedia of Astronomy in 1977, which is where Joy Division drummer Stephen Morris saw the design.‘”
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vierte Idee: wahrscheinlich ist das nur die Spitze des Bedeutungseisbergs – und ich müsste viel mehr über Cambridge, Rothko, Richard Branson und seine Platten- und Flugzeugfirma Virgin, Polarlicht und die Währung Südafrikas verstehen, um Ross Sutherlands Gedicht gerecht zu werden.
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aber hätte Ross Sutherland diesen Aufwand verdient? ich bin mir sicher, in “Richard Branson” sind, wie in allen anderen Ross-Sutherland-Gedichten, Unmengen kleiner Scherze, Verweise, Anspielungen vergraben. doch ich bezweifle, dass die Bedeutungs-Nuggets, die ich da ausgraben könnte – für mich persönlich – spannend genug bleiben, um nach drei Stunden Beschäftigung mit dem Gedicht jede Zeile noch einmal tiefer, gründlicher umzugraben will: Google? verrat mir alles über Richard Bransons Projekte am Polarkreis. welcher Rothko-Print ist “klein und glasig”? und so weiter.
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fünfte Idee: wäre ich mit Virgin, Richard Branson, Joy Division aufgewachsen, hätte ich Interesse an Rothko oder Cambridge (oder “Shrek”), ich würde tiefer graben. vielleicht versteht jeder Brite, warum Ross Sutherlands Gedicht “Richard Branson” heißt. Vielleicht würde ein deutscher Zwilling von Ross Sutherland sein Gedicht über eine scheiternde, schal gewordene Beziehung “Carsten Maschmeyer” nennen, oder “Rainer Calmund”.
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gerne gelesen? nein. und ungern kommentiert: ohne Branson-Bezug fühle ich mich unqualifiziert, über “Richard Branson” zu schreiben.
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schlechtestes Wort: nenn einen Künstler. den erstbesten! “Rothko.”
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später / danach:
ein Freund von mir bewundert Feldherren, Taktiker, gemeine Strippenzieher. und… Apple. wenn er Steve Jobs beschreibt, verschwimmt seine Bewunderung zu einem seltsamen psychologischen Helden-Brei. in einer meiner Lieblingsszenen aus “Mad Men” sollen Hundehalter über den Charakter ihres Hundes sprechen. doch sofort wird klar: niemand beschreibt den Hund. jeder Hundehalter erzählt, wie er selbst gerne wäre. ein Wunschtraum, projiziert auf die Tiere. dass sich Ross Sutherland mit Richard Branson eine fleischgewordene Midlife-Crisis sucht, langweilt und nervt mich: Branson, Zangief, Jean-Claude van Damme… wo liegt der Reiz all dieser alten Herren?
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nicht mal ein halbwegs passender Song fällt mir hier ein: vielleicht die Counting Crows? auch dort hadert oft ein trauriges Ich mit einem fernen Du.
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weiter mit: Ross Sutherlands »A Second Opinion«
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Stefan Mesch, geboren 1983, schreibt für ZEIT Online und den Berliner Tagesspiegel. Er studierte Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus in Hildesheim, war Herausgeber von BELLA triste und Mitveranstalter des Literaturfestivals PROSANOVA und arbeitet an seinem ersten Roman, “Zimmer voller Freunde”. Als Liveblogger begleitete er u.a. das lit.futur-Festival 2013 und den Berliner Open Mike 2012. Buchtipps, Essays, Interviews und Texte auch auf seinem Blog… und erschreckend oft bei Facebook (Freund werden?).