listen_to_yourself_

Ich war mir beim ersten Überfliegen schon relativ sicher, mittlerweile aber weiß ich es: Ich mag die Lyrik Ross Sutherlands nicht. Ich finde sie überdreht und bemüht. Ein wenig prätentiös im Ganzen. Ross ist Performer und seine Gedichte lassen sich vielleicht besser live im Vortrag als auf einem Screen erleben. Auch wenn nicht glaube, dass sie mir dann wesentlich besser gefallen würden.

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Ich kann mir trotzdem schon vorstellen, dass sie jemand mag: Sie haben einen gewissen Humor, vollziehen absurde Wendungen, sind fantasievoll. Zumal sie gerade ein jüngeres Publikum ansprechen könnten. Eins, das mit dem Fernseher, Street Fighter und dem Internet aufgewachsen ist. Das Leben mit und in Medien ist ein zentrales Leitmotiv in Ross’ Lyrik, es erschließt sich womöglich am besten denen, die darin ihre eigene Lebensrealität gespiegelt sehen. Dazu gehöre ich eigentlich auch, und doch mag ich diese Texte nicht. Sorry, Ross.

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Kurzum: Ich würde mich eigentlich nicht freiwillig mit diesen sieben Gedichten beschäftigen. Ich musste es im Rahmen dieses Projekts aber tun.

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Es fiel mir nicht sehr schwer.

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Als Leser im stillen Kämmerlein, Schüler im Deutsch-Grundkurs, Student der Literaturwissenschaften, Kritiker und Veranstalter von Literaturevents habe ich gelernt, dass sich nicht nur die Beschäftigung mit der (vermeintlich) Unverständlichen, sondern auch dem Nicht-Gemochten lohnen kann. Zumindest ist sie jederzeit möglich. Jeder Text bietet eine Vielzahl von Anknüpfpunkten und/oder Angriffsflächen. Auch wenn es ein wenig Überwindung kostet: Aus jedem Stück Literatur lassen sich Gedanken filtern, ästhetische Konzepte herausziehen oder neue Ideen extrahieren. Selbst wenn etwas nichts als Widerspruch hervorruft, erfüllt es schon einen Zweck.

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Es war mir beim Verfassen meiner Kommentare wichtig, meine ganz eigene Position zu den Texten exponiert herauszustellen. Denn ich bin es hier, der seine Assoziationen, Interpretation sowie gelegentlich seine Kritik äußert. Wenn wir uns mit Literaturvermittlung befassen, dürfen wir nicht vergessen, dass es im Umgang mit Literatur keine Kategorien wie richtig oder falsch gibt. Und dementsprechend auch das Oppositionspaar objektiv und subjektiv ein heikles ist. Ich kann mich unmöglich von meinem Hineinwachsen in die neuen Medien losmachen, wenn ich über Ross’ Infinite Lives (Try, try, try again) schreibe. Ich ziehe es vor, das auch offen herauszustellen, anstatt meine Person hinter einer Objektivität zu verschanzen, die es meiner Meinung nach so nicht gibt.

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Viele der Teilnehmenden sind Schüler_innen. Vielleicht nicht hundertprozentig freiwillig dabei, vielleicht nicht wirklich mit dem Herz bei der Sache. Vielleicht ein wenig eingeschüchtert davon, nicht ganz zu kapieren, worum es in Text xy eigentlich »geht«. »Was uns der Autor (nebenbei: ich finde es schon etwas unglücklich, dass wir nur Texte von Männern zu lesen bekommen) damit sagen will.« Vielleicht etwas ratlos, ob die eigenen Assoziationen und Gedanken zu einem Gedicht diesem wirklich gerecht werden.

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Ich habe versucht, mich auf sieben verschiedenen Arten an sieben verschiedene Gedichte heranzumachen, um eine Idee davon zu geben, wie vielfältig die Beschäftigung mit Literatur ausfallen kann.

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Im Kommentar zum Text Zangief bin ich sehr weit gegangen, indem ich den Text mit zwei politischen Diskursen verbunden, die so direkt im Text nicht angesprochen werden: Sexismus in der Videospielindustrie (sowie die latente Homoerotik des character designs von Spielen wie Street Fighter) und die derzeitige gesellschaftspolitische Lage in Russland.

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A Second Opinion bin ich dann mit intertextuellem Ansatz angegangen. Die Metapher des Herzens wörtlich zu nehmen, um damit auf die Grenzen unserer Sprache hinzuweisen, das wird bereits in anderen Texten gemacht oder zumindest vorbereitet. Ich habe an dieser Stelle zum Beispiel auch nur diejenigen aufgezählt, die mir aufgefallen sind – dabei hätte ich vielleicht noch auf Hugo von Hofmannsthals Ein Brief hinweisen können oder einige Gedichte Arthur Rimbauds… Das ist eben auch meine subjektive Beigabe: Ich selektiere, ob gewollt oder nicht.

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Zu Jean-Claude van Damme wählte ich, ähnlich wie zu Inifinite Lives (Try, try, try again) einen persönlichen, autobiografischen Zugang, um eine eher psychoanalytische Deutung zu versuchen. Inklusive der sehr ausgeleierten Pointe, dass dort eigentlich ein Ödipuskonflikt ausgespielt wird.

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Für meinen Kommentar zu Nude III bin ich dann schon etwas tiefer in die Wortebene eingetaucht und bin dem Text mit meinen eigenen Erfahrungen begegnet. Das ist wohl der Kommentar, der am ehesten klassisch-hermeneutisch funktioniert.

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Als ich mich mit Richard Branson befasste, war mir sofort klar: Scheißegal, was dir der Text erzählt, viel spannender sind die Hyperlinks. So habe ich das Gedicht eher von seiner formalen Seite, nicht seinem Inhalt her betrachtet und konnte daraus – wie ich finde – ein paar interessante Schlüsse ziehen. Noch interessanter wurde es, als ich darauf hingewiesen wurde, dass die Hyperlinks gar nicht von Ross in den Text eingeführt wurden – was nahezu unheimlich gut in meine Argumentation passte.

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Das Experiment to Determine the Existence of Love bin ich im Grund sehr ähnlich angegangen wie A Second Opinion (was sich allein thematisch anbot). Zeigen wollte ich damit eher, dass ein Kommentar nicht immer mit (den eigenen) Worten stattfinden muss. Der Song von The Ergs beispielsweise fasst mit seinen Lyrics gut zusammen, was seit dem Minnesang als Paradox der Liebeslyrik gilt: Ohne deren Scheitern wäre sie nicht so spannend.

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Ich halte jeden meiner Kommentare zu Ross’ Lyrik für ein absolut legitimes Statement.

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Dennoch: Ich halte jeden meiner Kommentare zu Ross’ Lyrik für absolut angreifbar.

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Wenn wir uns mit Literaturvermittlung befassen, dürfen wir nicht vergessen, dass es vor allem darum geht, einen Dialog zu schaffen. Verschiedene Perspektiven nebeneinander zu stellen, selbst wenn sie sich widersprechen. Zu streiten, einander zuzustimmen. Das sagt ¿comment! – Lesen ist schreiben ist lesen bereits mit dem Titel aus, die Praxis stellt sich genauso dar: Ihr könnt meine Kommentare kommentieren. Ihr sollt es sogar. Denn ich kann mir zwar vorstellen, dass es noch andere Sichtweisen und Möglichkeiten des Kommentierens zu Ross’ Text gäbe – ich kann sie nur für mich nur schlecht ausformulieren, habe meine Grenzen.

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Ich halte insofern jeden eurer Kommentare zu meinen Kommentaren zu Ross’ Lyrik unbesehen für ein absolut legitimes Statement.

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Ich habe im Rahmen dieses Projekts das Label »Profileser« aufgedrückt bekommen. Das impliziert ungewollt eine gewisse Autorität, die ich eigentlich nicht inne habe. Zumindest habe ich keine über euch und eure Gedanken. Wenn ich es als okay empfinde, Ross’ Gedichte nicht zu mögen und das auch zu schreiben, dann soll es euch doch wohl ebenfalls gestattet sein, meine Texte nicht zu mögen.

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Ich freue mich deshalb auf Zu- genauso wie auf Widerspruch.

Von Kristoffer Cornils

6 Kommentare

  • Chaudchat

    Was ist lesen? Wikipedia weiß:
    http://de.wikipedia.org/wiki/Lesen

    “Im weiteren Sinn versteht man darunter die Rekonstruktion der im Text kodierten Bedeutungsinhalte und den Aufbau einer mentalen Repräsentation dieser Inhalte in einem sog. Situationsmodell oder mentalem Modell.”
    Literatur als Code?

  • Ross Sutherland

    Hi Kristoffer- first of all, thanks for your comments on my writing.

    I must concede that some of your criticisms are pretty accurate (from my perspective as author). I think my writing is “over-excited” and “anxious” from time to time. Once, a critic described my writing as “a man who has just run up a flight of stairs to tell you something important, but then can’t get it out.” I really can’t argue with that. Writing for me has always been about overcoming a sense of anxiety & how culture fills those gaps. Although some of the choices I make as a writer are clearer when the work is heard aloud.

    Because I’m reading your commentary through Google Translate, I’m having trouble reading some of the sentences-
    This one: “I have learned that not only the study of the (supposedly) incomprehensible, but also the non-Gemochten can be worthwhile.”
    Could you explain a bit more what you mean by this? An explanation of “the non-Gemochten” would be handy.

    I might leave some similar requests on your other essays if that’s OK?

    I’m sorry that you didn’t enjoy the poems more, and I feel like I should apologise to you! But I’m going to restrain myself. Writing is about dialogue, not approval, after all. Though if there’s any poets you think I’d like to read, please send me some recommendations.

    Best wishes,
    Ross Sutherland

  • Kristoffer Cornils

    Katharina: Das war mir bewusst und soll nicht zwangsläufig als Kritik verstanden werden. Deshalb: »unglücklich«. Ich meine, unterliegt Literaturvermittlung nicht auch immer einem gewissen Repräsentationszwang? Bzw. einer Pflicht zur Repräsentation?

    Ross: There’s absolutely no need to apologise to me. You’re absolutely right, literature (any kind of artistic expression) is not about approval, but about starting a dialogue. You can’t have a dialogue without diversity. Hence the sentence you picked out – “I have learned that not only the study of the (supposedly) incomprehensible, but also the non-Gemochten can be worthwhile.” (The “non-Gemochten” part doesn’t translate well because “das Gemochte” isn’t really a word, I guess. Directly translated, it means »the non-liked«.) – is pretty much the core of my argument: By having to deal with something I don’t like (or feel like I don’t understand) I get automatically exposed to ideas and perspectives or aesthetic ideals which are different from mine. Which makes it absolutely worthwhile. So while I might not have liked your poems, I still learnt something by analysing/interpreting them.

    I wrote this whole comment in regard of the pupils (age 17-19, I think) who will take part in this project which itself is based on dialogue. Our school system doesn’t really encourage this sort of dialogue, at least in my experience. Instead, you get exposed to canonical literature (something which you have to »like« because it’s »high culture«) or poetry that seems hard to »understand« but has to be interpreted in a consensual way. When I was still studying literature, some of the students asked the professor – and this was in the sixth semester, German philology! – how to »find the right interpretation« of a poem. I couldn’t fucking believe it. Those are the people that might some day teach my kids (a vasectomy seems reasonable). So, I wanted to take a stand against this, make it clear that it’s OK not to like art and to contradict the consensus/the »experts« (I was labelled a »Profileser«, a »professional reader« – but what makes me a professional? And even if I’m a professional: Is my opinion really worth more than an amateur’s? I don’t think so.).

    If you have any more questions, shoot! I’ll answer every one of them. Would be a shame if too much got lost in (Google’s) translation.

    PS. I described your poems as »prätentiös« which means the same as »pretentious«, but is not as harsh in tone as the English equivalent – that wasn’t meant to be an insult. Plus, I hope it’s become clear that I can imagine what people could like about it. I also pointed out the performative aspect of your work, because that seemed important to me – I didn’t want to paint a biased picture of your poetry!

  • Kristoffer Cornils on Ross Sutherland’s poetry | ¿comment! - Lesen ist schreiben ist lesen

    […] I then wrote a final statement trying to explain my overall approach. Another thing I like about ¿Comment! is its transparency: Unlike an article, essay or review I publish in a printed magazine, readers can directly react to it and I have to take a stand, explain myself or justify my methods (if I don’t, I’d come across as a snob, right?). As this project explores the possibilities of promoting literature to a younger crowd, I felt like I should point out some notions and prejudices that have always bothered me when I was in school, still bother me on my occasional visists to university or when discussing literary criticism: […]

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