Originaltext
Ross Sutherland: Nude III

Hier werden Fakten angeführt, die wie erfunden klingen. Von der Existenz eines Kniffel-Instituts wusste ich nichts; es gibt sogar ein Welt-Kniffel-Institut (http://yahtzeemanifesto.com/wyi.php), kniffelig ist auch die Schule der Gebrochenen Hälse in Toronto. Vielleicht ein volkstümlicher Ausdruck? So wie die ´Goldelse´, die ´schwangere Auster´, das ´Knie´, usw. in Berlin. Da gibt es außerdem ein dubioses Institut, das aber mit Kniffel nicht gerade viel am Hut hat (http://thebethleheminstitute.org/) und auch nicht in Bethlehem steht, sondern in Minnesota – immerhin in der Nähe von Toronto! – Die Konfusion, die Sutherland für diejenigen angerichtet hat, die sich nicht in ihrer Freizeit als Jäger und Sammler des Seltenen betätigen, angerichtet hat.

 

Die Konfusion ist also nicht gerade klein. So wie im Branson-Gedicht über die Nennung des Malers Rothko wird auch hier eine Farbsymbolik angeboten: Sepia, verknüpft mit einer teils realistischen Inszenierung (die Azubis mit schlenkernden Armen im Licht der Straßenbeleuchtung), teils surrealistisch dargeboten (Sepiaton der Straßenbeleuchtung) und im letzten Vers schließlich zu einer Synästhesie geführt. „Warteschleifenmusik des Himmels“ klingt indes nicht nach dem endlich gefundenen hohen Ton. Es klingt nach einer Liebe zum Zusammentragen von Details. Akademikern ist das ein Gräuel, Ross Sutherland, ist, wissentlich oder unwissentlich, Mediolge. In seiner 2000 erschienen Introduction à la Médiologie (dt. Einführung in die Mediologie, übersetzt von Susanne Lötscher. Bern u.a. 2003) gibt einer ihrer Vordenker, der politische Aktivist und Medientheoretiker Régis Debray in Auseinandersetzung mit dem Slogan ´The medium ist the message!´ von Marshal McLuhan veranschaulicht die Affinität des Mediologen zur Kunst folgendermaßen:

 

„Ein Mediologe empfindet eine ganz besondere Affinität zu Kunstdingen, weil die Kunst die technischen Vermittlungen in den Rang der Kultur erhebt. Kunst ist von Natur aus Bastelei. Sie tendiert zum Objekt und liebt den Kleinkram […]. Spontan hylemorphisch, das Übersinnliche ins Sinnliche einschmelzend (Hegel), das Innere (die Emotion, das Gefühl des Schöpfers) nach außen bringend oder das Äußere (die Seele einer Landschaft, die Melancholie einer Kaffeekanne) verinnerlichend, ist die Kunst am ehesten in der Lage, das Willkürliche der idealistischen Abgrenzungen (Seele/Körper, Subjekt/Objekt, Form/Materie usw.) zu entlarven. Das ist der Bereich, in dem die Trennung Medium/Botschaft oder Technik/Symbolik am fragwürdigsten ist (der Kupferstich ist ein technisches Medium, ein Stich von Dürer eine ästhetische Botschaft). Dieses Getrennte zusammenzufügen bereitet noch immer Kopfzerbrechen, davon weiß der Bildhauer, ´animal technicien´ schlechthin und jahrhundertelange durch die Sprachkünste drangsaliert, ein Lied zu singen. […] Ein Kunstwerk ist dann gegeben (beim Geiger wie beim Zeichner), wenn das Instrument vergessen, überholt, […] zum Verschwinden gebracht wird. Dann wird man sagen, es sei ein weiter Weg von der Herstellung zum Stil, Technik sei eigennützig, sie ziele aufs Nützlich ab, während die Kunst uneigennützig und ihre Bestimmung ohne praktischen Zweck sei. […] Diese abgedroschenen Gegensatzpaare [Kunst vs. Technik, Anm KA] galten während der gesamten Zeit der Akademie, aber in der Epoche der Techno-Musik und der Techno-Kunst […] sind sie überholt.“ (Einführung in die Mediologie, S. 78)

 

Der entlarvende Gestus Sutherlands war schon mehrmals gezeigt worden, ebenso seine Affinität zu allerlei Bedeutungshöfen des Spielerischen. Hier scheint der medien-konsum-ideologiekritische Aspekt etwas weniger im Vordergrund zu stehen, wenngleich das Bentham’sche Panoptikum als Präfiguration des totalen Überwachungsstaats, wie das 20. Jahrhundert ihn gesehen hat, unverkennbar im Bild des Reptilienhirns vorhanden ist, so überwiegt hier doch die programmatische Absicht, Auskunft über die eigene Poetologie zu geben. Das Gedicht gehört zum Eröffnungsteil eines zwölfteiligen Zyklus (http://www.rosssutherland.co.uk/main/book/twelve-nudes). Die Figur auf dem Cover könnte von Alberto Giacometti gefertigt sein; naheliegend ist aber auch ein Gemälde von Otto Dix aus dem Jahr 1930 mit dem Titel Melancholie (http://bildwerk.tumblr.com/post/10800860683/otto-dix-melancholie-1930-137-x-98-cm-oil-and).

 

„Dieses Werk kündigt sich aufgrund seines Titels als eine Allegorie der Melancholie an. An die Tradition der Vanitasbilder anknüpfend, erinnert ein zu Füßen eines Stuhls liegender Schädel an den vergänglichen Charakter des Lebens auf Erden. Im Mittelpunkt sieht man eine Gliederpuppe von hinten, die aus einem Fenster blickt, das sich auf einen in der Dämmerung beunruhigend rot gefärbten Himmel öffnet. Eine nackte junge Frau [… ] drückt mit ihrer Hand die Gliederpuppe in einer Mischung aus Trägheit und Selbstsicherheit gegen das Fenster zurück. […] Dieses 1930 gemalte Bild markiert einen Wendepunkt im Schaffen von Otto Dix. In einer Zeit, in der Deutschland eine tiefe Krise erlebt, […] bevorzugt der Künstler mehr und mehr allegorische und biblische Sujets. Es handelt sich dabei aber weniger um einen Rückzug des Künstlers in einen Elfenbeinturm, als vielmehr um ein Mittel der indirekten Warnung.“ (Ausstellungskatalog, herausgegeben von Jean Clair zur Ausstellung Melancholie. Genie und Wahnsinn in der Kunst vom 7.2. bis 17.5.2006 in der Neuen Nationalgalerie Berlin, S. 488

 

Ross Sutherland, das lässt sich an diesem Gedicht besonders anschaulich beobachten, ist ein Autor von Warngedichten. Sie sind von eindeutig saturnischem Ursprung, also schwermütig, zuweilen auch schwerfällig. Das unterläuft ihnen aber nicht, sie sind mit voller Absicht so – und bei einer Koketterie mit Insignien der Melancholie belässt Sutherland es auch nicht. Als Beleg für seine Erläuterungen zum „literarischen Missverständnis“ im Zuge seines Essays Politique de la littérature (dt. Politik der Literatur, übersetzt von Richard Steurer. Wien 2008) kommt der Philosoph und Ästhetiker Jacques Rancière auf Flauberts und Proust detailversessenen Schilderungen zu sprechen; die er mit einigen Überlegungen zum Zensus, zur Revolution von 1848 und der Doppeltdeutigkeit des Wortes „Missverständnis“ im Französischen vorbereitet hat. Diese Überlegungen zu Autoren des französischen Litreaturkanons lassen sich auch auf die Gedichte, besonders aber auf das vorliegende Gedicht aus dem Zyklus Twelve Nudes, von Ross Sutherland übertragen:

 

„Das [literarische] Missverständnis wird […] wie das [politische] Unvernehmen zum Schaden desselben Paradigmas der Ordnung ausgeübt, des schönen Lebewesens, aufgefasst als Harmonie der Gliedmaßen und der Funktionen in der organischen Ganzheit. Diese Modell des schönen Lebewesens ist auch ein Paradigma der Korrespondenz und der Sättigung: Es darf in der Gemeinschaft keine Namen-von-Körpern geben, die als Überschuss von realen Körpern zirkulieren, keine schwebenden und überzähligen Namen, die fähig wären, neue Fiktionen zu konstituieren, die das Ganze teilen und seine Form und seine Fiktionalität auflösen würden. Und es darf auch im Gedicht keine überzähligen Körper geben in Bezug darauf, was die Zusammenfügung der Bedeutungen nötig macht, keine Körperzustände, die nicht durch ein bestimmtes Ausdrucksverhältnis mit einem Bedeutungszustand verbunden sind.“ (Politik der Literatur, S. 58)

 

Zur Erzielung genau dieses Überschusses bieten sich Verfahren an, die unabhängig voneinander Lewis Caroll (Alice in Wonderland) und Christian Morgenstern (Galgenlieder) entwickelt und verfeinert haben. Von wenigstens einer dieser Quellen profitiert auch die Literatur von Sutherland. Morgensterns Galgenlieder wurde durch die Übersetzung von Max Knight auch im angelsächsische Sprachraum eine breitere Rezeption zuteil, das erste Galgenlied, das Knight ins Englische übertragen hat, nähere Informationen dazu gewährt die Morgenstern-Biographie von Jochen Schimmang (Residenz, 2013, S. 150-153) war Der Lattenzaun.

 

Es war einmal ein Lattenzaun,

mit Zwischenraum, hindurchzuschaun.

 

Ein Architekt, der dieses sah,

stand eines Abends da –

 

und nahm den Zwischenraum heraus

und baute draus ein großes Haus.

 

Der Zaun indessen stand ganz dumm,

mit Latten ohne was herum.

 

Ein Anblick gräßlich und gemein.

Drum zog ihn der Senat auch ein.

 

Der Architekt jedoch entfloh

nach Afri- od- Ameriko.

 

(Christian Morgenstern, Alle Galgenlieder. 1.-20. Tausend. Berlin 1932, S. 54)

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