Zu Christian Prigent:  l’âme: le bleu, tomber du jour #2

 

Ich schreibe mir eine kleine Kulturgeschichte der Farbe Blau zusammen: Vor den chemischen Farben sind Blautöne Luxus. Lapislazuli ist so schwer erhältlich und in seiner Leuchtkraft so unnachahmlich, dass die Maler im Mittelalter seine Verwendung extra berechnen. Lapis lazuli ultramarine – Ultramarin – kommt als azurro ultramarino nach Venedig, buchstäblich von ‚jenseits des Meeres‘, aus Afghanistan. Das beständige, lichtechte Blau ist kaum durch Extrakte aus Blaukraut oder Beeren zu ersetzen. Auch aus gemahlenem Glas gewonnenes Blau erreicht nicht die Kraft, die es für die Darstellung atmosphärischer Muttergottesmäntel brauche (à propos, Wikipédia-Fund: Möglichkeiten, auf Französisch zu fluchen, ohne Blasphemie zu begehen: „Ventrebleu, palsembleu, corbleu, maugrebleu, parcorbleu, morbleu, parbleu, sacrebleu, tubleu, vertubleu, nom de bleu“).

Dazu mische ich aus meinem Sprach- und Literaturtuschkasten: blaue Blume, blaues Band, blauer Reiter (Kandinsky: „Je tiefer das Blau wird, desto tiefer ruft es den Menschen in das Unendliche, weckt in ihm die Sehnsucht nach Reinem und schließlich Übersinnlichem. Es ist die Farbe des Himmels.“)
Blauer Montag, Blauer Montag, Blausucht und Blausäure
Aber gibt es eine Seelengeschichte des Blaus?

Krzysztof Kieślowski hat im Jahr 1993 eine verfilmt

 

Trois couleurs: Bleu; Drei Farben: Blau
Und eine kleine französische Literaturgeschichte des Blaus?
Vor Prigent hat Arthur Rimbaud in einem Gedicht mit Farbe hantiert.

 

Das synästhetische  Sonett  „Voyelles“, 1883 veröffentlicht, sortiert die Vokale auf einer Farbpalette ein.

Das O ist blau:
“A noir, E blanc, I rouge, U vert, O bleu: voyelles”

Und im letzten Terzett heißt es:

“O, suprême Clairon plein des strideurs étranges,
Silences traversés des Mondes et des Anges “

von Stefan George übersetzt:

„O: seltsames Gezisch erhabener Posaunen
Einöden durch die Erd- und Himmelsgeister raunen.“

 

Was raunt der Text von Prigent?

 

Erstes Signal:
l’âme : le bleu …. Die Seele unterhält eine Doppelpunktbeziehung mit der Farbe Blau!
Gibt die Seele – dieses Nicht-Organ – Licht von einer bestimmten Qualität ab?

Zuerst greife ich nach der augenfälligen Form des Textes, Makrostruktur: 5 Strophen, die erste davon drei-, die übrigen – bis auf einen Zweizeiler, der das Ende ankündigt – vierzeilig:

le bleu déplorable
le bleu de prusse suspendu au noir
le bleu du déboire

le bleu de succion
le bleu de gnons
le bleu d’horions
le bleu de zéro horizon

le bleu de nuit
le bleu recuit
le bleu de cuite
le bleu de fuite

le bleu vite
le bleu vide

le bleu sans yeaux l’album
de l’oeuvide
l’albumine
de l’oeuf de moi vide

Die Strophen beginnen, bis auf die letzte – ausnahmslos mit dem Artikel ‘le’; der Text ist verblos und ergibt eine enumeratio, nein, eine Palette seelischer Blautöne.


 

Erste Strophe
le bleu déplorable – erstes Blau: und schon ein bedauernswertes?

le bleu de prusse …– Preussischblau, im Jahr 1706 vom Berliner Farbproduzenten Diesbach hergestellt, deswegen auch Berliner Blau genannt, drei Jahre später zum ersten Mal in der Malerei verwendet, in Theodor Fontanes Roman Frau Jenny Treibel in großem Umfang produziert: ein Blau, das nicht ausblutet, wetter- und lichtbeständig. Weitere Bezeichnungen: Pariser Blau! Chinesisch Blau!Sein Name variiert je nach Herstellungsverfahren, -ort und -eigenschaften.….

…suspendu au noir….

Eigenschaft im Text: reicht ins Schwarz hinein, ist an ihm aufgehängt. Die Nichtfarbe zieht das Blau auf ihre Seite, oder: reißt es an sich, knöpft es auf, hängt es auf? Ergibt Schwarzblau, das in assonante Atmosphäre fällt:

le bleu de déboir: Die Seele der Punkt, an dem Enttäuschung sich von der Handlung ‘Täuschung’                                                                                                          separiert

 

und auf das Subjekt einfällt.

Spricht hier ein Subjekt? Déboire-boire: Zu tief ins Glas? In die Seele geblickt?

 

Zweite Strophe

 

le bleu de succion: Es wird immer blauer, saugblau. Da saugt sich jemand so blau, dass nur noch ein
bleu de gnons
danach noch ein bleu d‘horions folgen kann

Schlagkräftiges Blau! Knock out? Augenblau?

le bleu de zéro horizon, wohl ein dunstiges Blau. Filmriss.

Vom Riss aus laufe ich die Zeilenstrecke noch einmal zurück, zum Ausgangspunkt, notiere: der blaue Sog war so stark, dass ich unbemerkt die Reimstufen hinunter gestürzt bin: – on – ons – ons- on
Und wieder hinunter: on – ons- ons – on

Die Strophe hat sich mir eingebläut!

 

Dritte Strophe

Da stehe ich nun, die Stufen Blau hinter mir.   Ist da noch jemand? Oder bleibt bloß Blau?

Aussichtslos. Die Nacht ist herangerückt. In Nachtblau, versteht sich:
le bleu de nuit

Vorangeschritten. Schon sind meine Schuhe vorm Hinabsteigen der nächsten Blautonstufen gespitzt: sie wittern die pfeifende Reimskala: -uit-uit-uite-uite.

Le bleu recuit
Le bleu de cuite
Le bleu de fuite

 

Nächtens glühts blau, folgt Brand, wer löscht das Feuer?

Fuite. Fort. ((Französische Redewendung: “Avoir une peur bleue”, ‚eine Heidenangst haben‘)

Vierte Strophe

le bleu vite
le bleu vide

Fluchtlinie, schwaches Zeilenpaar: das schnelle Blau ist aufgebraucht! Flasche leer?

Fünfte Strophe

Letzte Station der Palette: Einzeilig blau, dann klingt yeaux l’album/ de l’oeuvide/ l’albumine/de l’oeuf de moi vide.

 

Der Doppelpunkt ist aufgerauscht! Das Blau verkostet!

Die Seele, dieses Nacht-Organ, getunkt in Milch, Ei, Weizen –

 

gähnt Morgenweiß!

_________________

 

Und Eure poetische Farbenlehre?

 

(Rike Bolte)

 

 

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